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Barbara Kuster hat mit ihren Brüdern noch in Ruinen in der Innenstadt gespielt, am liebsten im Stadtschloss.

© Andreas Klaer

Serie | 70 Jahre PNN - 70 Jahre Stadtgeschichte: „Ich war natürlich die Königin“

Sieben Zeitzeugen schildern ihre Erlebnisse in 70 Jahren Stadtgeschichte zum Jubiläum der PNN. Barbara Kuster erinnert sich an die 50er-Jahre, Waldmeistereis und den Aufbau Ost.

Die 1950er sind das Jahrzehnt zwischen Aufräumen, Aufschwung und zunehmender Abgrenzung vom Westen. Barbara Kuster ist ein Schulkind und spielt in der Schlossruine. Ihre großen Brüder tragen Elvis-Tolle und lesen Jerry-Cotton-Hefte aus dem Westen, der Vater liest das Neue Deutschland. Die Breite Straße steht noch recht prächtig, aber schon bald wird alles ganz anders.

Ihr Haus gehörte früher der Familie von Tresckow

Die Kabarettistin Barbara Kuster wird im April 1949 als Kind schlesischer Flüchtlinge in Potsdam geboren. Im alten Teil des Bezirkskrankenhauses, des heutigen „Ernst von Bergmann“-Klinikums. Der Vater ist Ofenbaumeister und ein gefragter Mann, bis zu acht Gesellen haben sie. In der Breiten Straße wohnen sie in dem Haus, das früher der Familie von Tresckow gehört hatte. Als Ruine gekauft, baut Barbara Kusters Vater das Haus wieder auf. Im Hinterhaus befindet sich die Werkstatt. 


Viele Häuser der Straße sind noch immer prächtig anzusehen. Gebaut wurde mit vorzeigbarer Fassade für den König, dahinter zum Wohnen für Jedermann. „Wenn ich heute jemandem unsere Familienfotos zeige, wundern die sich immer, wie schön die Straße aussah. Und das auch noch nach dem Krieg“, sagt Barbara Kuster. Die alten Häuser müssen später einem Aufbauprogramm Ost weichen. Die Garnisonkirche sowieso. Als Barbara Kuster dort aufwächst, steht die Ruine noch und in der Kapelle im Turm wird sie 1963 konfirmiert werden. 

In der Innenstadt wird noch Nahrung angebaut

Mitte der 50er-Jahre wird in Potsdam aufgeräumt und eine neue Gesellschaft aufgebaut. Barbara merkt davon erstmal nicht viel. 1955 wird sie eingeschult, Schule 9, die Geschwister-Scholl-Schule in der Dortustraße, direkt am Stadtkanal. Das Haus, in das später die Volkshochschule einzieht. Zum Sportunterricht gehen sie rüber zur Plantage. In den ersten Nachkriegsjahren war das ein Kartoffelfeld, an vielen Orten in Potsdam wurde Nahrung angebaut, auch auf dem Platz der Einheit wuchs Gemüse. Jetzt gibt es auf der Plantage Rasen und einen Buddelkasten, Büsche und zwischen herrlich blühenden Spieren versteckte Bänke.

Als Schulkind wird Barbara, wie das so üblich ist, Jungpionierin. Mit der Zeit wird sich das Politische in ihr Schulleben schleichen. „Ich musste mal einen Aufsatz schreiben: Das neue und das alte Potsdam“, erinnert sie sich. Aber es gibt auch Stadtspaziergänge mit ihrer Lehrerin Frau Funke. Frau Funke kennt sich aus und erzählt den Kindern von Potsdams Geschichte. Das wird Barbara Kusters Blicks fürs Historische bis heute schärfen.

Das Leben spielte sich auf der Straße ab

Das Wohnen in der heute verschwundenen Breiten Straße ist schön. „Wir hatten hier alles, Bäcker, Fleischerei Meissner, Drogerie Schukat. Und die Gaststätte zum Glockenspiel. Die Straße hatte teils einen grünen Mittelstreifen, viele Bäume – es war eine gemütliche Straße. Nach dem Umbau wurde es eine Autorennbahn.“ Damals spielt sich das Leben der Kinder auf der Straße ab. Man holt sich von der Eisfrau eine Eiswaffel, Vanille oder Waldmeister, oder vom Bäcker Kuchenränder für zehn Pfennig, und sitzt dann auf Treppenstufen vor dem Haus. Der Kanal, noch nicht zugeschüttet, verleiht dem Kiez eine würdevolle Langsamkeit. Dort liegt der kleine Familien-Ruderkahn, sogar mit Segel, von den Brüdern gebaut. Damit fahren sie manchmal raus bis auf die Havel. Schwimmen lernen die Kinder in der alten Militärbadeanstalt am Havelufer.


Der beste Spielplatz ist die Ruine des Stadtschlosses. In ganz Potsdam stehen so einige Ruinen, nicht ganz ungefährlich das alles, aber die Eltern haben zu viel zu tun, um sich Gedanken zu machen, wo ihre Kinder gerade spielen. In welchem Keller, in welchem kaputten Haus. Die Jugendlichen bilden Banden, Barbaras Brüder gehören zu einer Straßengang. Sie selbst geht lieber mit Freundinnen ins Schloss. Dort sind sie nicht die einzigen, obwohl das Areal eingezäunt ist – aber es gibt immer Schlupflöcher. Jungs suchen im Schutt nach Patronenhülsen, kratzen die Reste vom Schwarzpulver raus und lassen die Pulverhäufchen explodieren. Die Mädchen posieren in den Nischen der Statuen. Oder vor dem Portal. „Da stand ich dann und sprach zu meinem Volk“, sagt Barbara Kuster. „Ich war natürlich die Königin und meine Freundin war Hofdame.“

Die S-Bahn fährt noch in den Westen

Die DDR bedrängt derweil die Bürger, den Sozialismus aufzubauen. Der Vater soll, wie alle Handwerker, die Firma in eine Genossenschaft überführen. Er liest zwar die Märkische Volksstimme und das Neue Deutschland und findet die Sozialpläne der DDR gut. Aber deshalb Privateigentum aufgeben? Niemals. Noch ist die Grenze nach Westberlin offen. Am Savignyplatz haben Kusters Freunde, die sie oft besuchen fahren. Der historische Hauptbahnhof steht noch in Teilen, die S-Bahn-Verbindung nach Berlin funktioniert. Am Bahnhof Griebnitzsee ist Grenzkontrolle. Manchmal muss Barbara Ost-Geld für ihre Eltern schmuggeln. Kleine Mädchen werden nicht durchsucht. Das Ostgeld – der Handwerksbetrieb läuft gut, Geld ist da – tauscht man im Westen eins zu fünf um und packt es auf ein eigens dafür angelegtes Konto.

Im Westen gibt es Bruchschokolade, Südfrüchte und Petticoats. Dafür schwärmt Barbara. Ihre Brüder schwärmen für Lederjacken und Jeans. Einmal gibt es die Möglichkeit für die Familie, nach Wannsee zu gehen. Aber die Eltern zögern. Alles zurücklassen, was man hier, mit den eigenen Händen, aufgebaut hat? Was inzwischen Heimat geworden war? Dass der Osten 1961 die Grenze dicht machen würde, ist unvorstellbar. „Es gab so viele, die dort arbeiteten oder zur Schule gingen. Vater sagte immer: Das können die doch nicht machen!“

Das Alte ist dem Sozialismus im Weg

Was sie machen können: Potsdams historische Bausubstanz verschwinden lassen. Ab Mitte der 1950er fällt so manches alte Haus, darunter auch viele, die zu retten gewesen wären. Das Alte ist dem Sozialismus im Weg, und man braucht schnell neue Wohnungen. „Vater holte aus den Abrisshäusern noch historische Ofenkacheln, die er dann wiederverwendete.“ Und dann kommt die Schlossruine dran. Stückweise wird ab Januar 1960 gesprengt, der Schutt abtragen, ein Großteil landet im Fundament des neuen Ernst-Thälmann-Stadions am Lustgarten, ein Prestigeobjekt für die neue Stadt. Am Alten Markt steht derweil, wie viele andere Bürger, Barbara Kuster und sieht zu, wie unter Abrissbirnen ihr Königinnenschloss verschwindet.

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