
© Manfred Thomas
Landeshauptstadt: „Ich würde gern öfter ins Kino gehen“
Am Montag beginnt die Woche des Sehens. Mitorganisiert hat sie Stephanie Seidel. Die 42-jährige Potsdamerin ist blind. Im Alltag hilft ihr vor allem Labradorhündin Utah
Stand:
Nach ihrem Jurastudium hätte Stephanie Seidel Richterin werden können. Eine blinde Richterin – ganz ohne Augenbinde wie auf den klassischen Darstellungen der antiken Justitia. Doch Stephanie Seidel, blind seit frühester Kindheit aufgrund einer Netzhauterkrankung, wollte dichter dran an den Menschen sein, die Behindertenproblematik interessierte sie. Seit 2002 leitet die heute 42-Jährige die Beratungsstelle für Blinde und Sehbehinderte des Vereins Potsdamer Sozialwerk. Die beengten Räumlichkeiten im Staudenhof-Wohnblock Am Alten Markt 10 sind schwer zu finden, auch für einen Sehenden, der sich hier nicht auskennt. „Unsere Klienten wissen meistens, wie sie uns finden“, sagt Seidel mit einem Hauch Ironie.
Wenn ein Besucher zu lang auf dem Flur umher läuft, wird er ohnehin gehört – von Labradorhündin Utah. Der Blindenhund gehört seit drei Jahren zu Seidel, seit etwa eineinhalb Jahren sind sie richtig vertraut miteinander. „Das brauchte seine Zeit“, sagt sie. Als vor einigen Jahren der letzte Sehrest verschwand und das Orientieren und Fortbewegen nur mit Stock immer schwieriger wurden, stellte sie bei der Krankenkasse einen Antrag auf einen Blindenhund. Und wartete zwei Jahre auf den Anruf: „Frau Seidel, jetzt ist’n Hund da!“ Nach vier Wochen Training zogen sie zusammen los, Utah führt sie seitdem sicher durch den dichtesten Verkehr. Jetzt traut sie sich sogar wieder durch die Brandenburger, an voll besetzten Restauranttischen und Aufstellern vorbei, normalerweise der Horror für Menschen, die nichts sehen können. „Und einmal hab ich mich im Bergmann-Klinikum verlaufen – aber Utah hörte den Straßenlärm und führte mich zum nächsten Ausgang“, sagt Seidel. Der Hund ist ihre Sicherheit.
Eine Blindenbinde würde sie nie tragen. Lieber holt sie zusätzlich ihren weißen Stock raus, zum Beispiel, wenn sie über die Straße muss und nicht weiß, ob die Autofahrer sie wahrnehmen. „Meist höre ich ja, ob der Verkehr parallel mit mir läuft oder quer, also wie die Ampel geschaltet ist“, erklärt sie. Es ist das Gehör, das zum Großteil die Aufgaben der Augen übernimmt. „Ich höre, ob jemand beim Sprechen lächelt oder strahlt, dann verändert sich die Stimme, ich spüre, ob jemand reserviert, oberflächlich oder interessiert ist“, sagt sie. Aus der Stimme eines Menschen ergebe sich für sie auch ein Bild seines Äußeren. „Das Bedürfnis, jemanden anzufassen und zu berühren, haben die wenigsten Menschen, die seit längerem blind sind“, sagt sie.
Schwierigkeiten im Alltag gibt es dennoch zur Genüge: Mal eben was Neues zum Anziehen kaufen – das geht nur mit einer vertrauten Freundin. „Verkäufer als Berater geht gar nicht, die wollen nur irgendwas loswerden“, hat sie die Erfahrung gemacht. Auch was die Körperpflege betrifft, ist sie auf Hilfe anderer, Sehender angewiesen. „Ich bekomme nicht mit, ob ich Flecken auf meiner Hose habe, das muss mir jemand sagen.“ Hin und wieder will sie sich auch mal schminken und Lidschatten oder Lippenstift aufzutragen, „das kriege ich hin“. Ansonsten könne sie sich schon merken, wo welches Pflegeprodukt drin ist, oder sie kennzeichnet es irgendwie.
Eigentlich gibt es für fast alle Bereiche Hilfsmittel, sodass Sehbehinderte oder Blinde auch in fast allen Berufen arbeiten könnten. Doch nur etwa ein Drittel der Arbeitssuchenden unter den insgesamt 1400 blinden oder sehbehinderten Potsdamern konnte eine Arbeitsstelle finden. „Das liegt nur an der Barriere im Kopf“, meint Seidel. Dass „Behinderte bei gleicher Eignung bevorzugt würden“, wie es in vielen Ausschreibungen steht, glaube sie nicht so recht. „Meist müssen wir überdurchschnittlich viel Leistung bringen, um ernst genommen zu werden.“
Stephanie Seidel hat zum Beispiel die Homepage der Beratungsstelle aufgebaut, sie liest und beantwortet E-Mails – alles mithilfe des Screenreader-Programms und der Braillezeile, wodurch der Bildschirminhalt in Blindenschrift wiedergegeben wird. Zum Schreiben benutzt sie eine ganz normale Tastatur.
1993 war die gebürtige Münchnerin die erste blinde Studentin an der Potsdamer Uni. Fachliteratur holte sie sich aus der Blindenschriftbücherei und dem Internet oder sie scannte die Bücher ein und ließ sie sich vom Computer in Braille übersetzen. Manchmal bekam sie eine Assistenzkraft für Prüfungen oder eine von der Uni finanzierte Vorlesehilfe zur Seite gestellt. „Man hat sich sehr um mich gekümmert, auch ein Computerarbeitsplatz für Blinde wurde eingerichtet.“
Heute kümmert sie sich selbst um die Belange von behinderten Menschen, hilft bei der Beantragung von Sozialleistungen und Hilfsmitteln, leistet Beratung zur Alltagsbewältigung.
Nach der Arbeit würde sie gern öfter mal ins Kino gehen. Während des jüngsten Inklusionsfestivals im Filmmuseum ging das auch, da liefen Filme mit einer extra Tonspur für Sehbehinderte – aber regelmäßig gibt es das nicht in Potsdamer Kinos.
Stephanie Seidel ist verheiratet, „wir haben aber leider keine Kinder“, sagt sie. Auch ein Grund, warum Hündin Utah ihr so wichtig ist. Vor allem aber ermöglicht ihr der Blindenhund Freiräume, die sie wenige Jahre zuvor noch nicht hatte: „Zum Beispiel Spazierengehen im Park Sanssouci auf neuen, unbekannten Wegen – da lass ich Utah von der Leine und höre nur noch ihr Glöckchen. Ich weiß, sie ist da und nur mit ihr finde ich wieder nach Hause, aber irgendwie bin ich auch frei. Eine ganz neue Erfahrung.“
Anlässlich der Woche des Sehens kann man am Samstag, dem 13. Oktober, von 10 bis 14 Uhr auf dem Weberplatz in einem Simulationstunnel ausprobieren, wie man sich als fast blinder Mensch fühlen und bewegen würde. Alltagsgegenstände und -hilfsmittel für blinde Menschen werden vorgestellt. In der Turnhalle der Goetheschule kann Goalball, ein Ballspiel für Blinde, ausprobiert werden. Veranstalter sind die Christoffel-Blindenmission, Sozialwerk Potsdam e.V. und Pro Retina e. V. , die sich mit Informationsständen vorstellen.
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