Zeithistoriker in Potsdam betrachten die jüngere Vergangenheit: „Im Osten die Wende selbstbewusster sehen“
Eine Ausstellung im Deutschen Historischen Museums widmet sich dem 25. Jubiläum der deutschen Einheit. Kurator der Schau ist der Potsdamer Historiker Jürgen Danyel. Im Interview spricht er über die deutsche Gesellschaft der Wendezeit, die wilden Jahre und Lernprozesse.
Stand:
Herr Danyel, im Gedenkjahr an 25 Jahre deutsche Einheit haben Sie als Kurator einer neuen Ausstellung zur Wendegesellschaft dieses Datum links liegen lassen und blicken stattdessen auf die erste Hälfte der 1990er-Jahre. Warum?
Die Ausstellung soll dazu beitragen, ein auf das Datum des 3. Oktober 1990 fixiertes und eher statisches Bild von der deutschen Einheit zu überwinden. An besagtem Tag wurde die Einheit politisch und diplomatisch vollzogen. Aber in den Jahren danach geht der Prozess der Vereinigung im Alltag verbunden mit den ganz unterschiedlichen Erfahrungen der betroffenen Menschen eigentlich erst richtig los – mit all seinen Ambivalenzen, Konflikten und Schwierigkeiten, aber auch mit Aufbruch und Neuem. Wir wollten ganz bewusst diesen Prozess im Sinne einer Gesellschaftsgeschichte der Vereinigung in den Mittelpunkt stellen, weil er bisher nicht ausreichend im Blickpunkt der öffentlichen Wahrnehmung gestanden hat.
Sie bezeichnen die Jahre zwischen 1990 und 1995 als „Übergangsgesellschaft“. Was beschreibt dieser Begriff?
Den Begriff „Übergangsgesellschaft“ haben wir ganz bewusst für den Titel der Ausstellung gewählt, weil sich in dieser Zeit das gesamte Institutionen- als auch Wertgefüge der ostdeutschen Gesellschaft im Umbruch befand. Wirtschaft und Arbeitswelt, die Institutionen der Verwaltung, aber auch und gerade das alltägliche Leben der Menschen waren weitreichenden Veränderungen unterworfen. Diese Offenheit der Situation prägt insbesondere den Zeitraum bis zur Mitte der 1990er-Jahre, wo dann bestimmte Prozesse der Neuordnung einen ersten vorläufigen Abschluss gefunden haben.
Es ist doch unbestritten, dass sich besonders das Leben der Ostdeutschen nach der Wende stark verändert hat. Was hat Sie daran besonders interessiert?
Interessiert haben uns etwa die Veränderungen in der Sprache, der dramatische Wandel der Arbeitswelt, die Begegnung mit der westlichen Konsumwelt oder die kulturellen Freiräume im „wilden Jahr der Anarchie“. Wir wollten auch wissen, wie die Deutschen in Ost und West mit dem neuen Nationalgefühl umgehen. Nahezu alles hat sich damals rasant und meist gleichzeitig verändert. Es war eine atemlose Zeit. Die Menschen hatten kaum Ruhe, das zu reflektieren. Es lohnt sich, diese spannungsgeladene Zeit noch einmal Revue passieren zu lassen und sie als einen gesellschaftlichen Lernprozess zu betrachten.
Reproduziert man nicht ein Klischee, wenn man sagt, östlich der Elbe habe sich alles, westlich davon nur wenig getan?
Unsere Ausstellung soll Ambivalenzen aufzeigen. Die deutsche Vereinigung hatte natürlich auch Auswirkungen auf die westdeutsche Gesellschaft gehabt, die sich verzögert und erst nach und nach zeigten und dann zusätzlich durch Herausforderungen überlagert wurden, die wir heute mit dem Stichwort Globalisierung kennzeichnen. In einem gewissen Sinne hat die ostdeutsche Gesellschaft Veränderungen vorweggenommen, denen sich später das ganze Land stellen musste.
Was bedeutet das konkret?
Im Osten Deutschlands hat ein Umbruch der Lebenswelten stattgefunden, bei dem die Menschen lernen mussten, alle Bereiche ihres Alltags neu zu organisieren: Dies reichte vom Umgang mit Geld, über die eigene Erwerbsbiografie oder Eigentumsfragen bis hin zu Sprachgewohnheiten. Wir zeigen die Dimensionen dieses Wandels für den Einzelnen am Beispiel von individuellen Lebensgeschichten. Die Ausstellung hat einen zentralen Bereich, der viele „Vereinigungs-Biografien“ dokumentiert und mit ihnen das ganze Spektrum von Erfahrungen zwischen Abbruch und Neuanfang, zwischen Erwartungen und Enttäuschung aufzeigt.
Und die Westdeutschen?
Wir präsentieren natürlich auch die Geschichten von Westdeutschen, die in den Osten gegangen sind und sich dort beim Aufbau und der Reorganisation von Institutionen wie etwa den Sparkassen oder der Verwaltung beteiligt haben. Wir dokumentieren, wie die in Deutschland lebenden türkischen Bürger die Einheit erlebt haben. Als besonders interessant erschien uns das vereinte Berlin als eine Art Schmelztiegel und Experimentierfeld, wo Ost- und Westdeutsche direkt aufeinandertrafen und wo relativ früh klar wurde, dass die Vereinigung auch den Westen verändern wird. In den meisten Regionen der alten Bundesrepublik hat sich zunächst kaum etwas für die Menschen geändert, und die Einheit wurde als Problem in erster Linie über die Medien wahrgenommen. Spätestens bei der Frage, wer die hohen Kosten der Einheit trägt, waren dann alle betroffen.
Der Mauerfall wird häufig dazu instrumentalisiert, zu behaupten, alle wollten die Einheit. Die Haltungen dazu aber waren vielschichtiger.
Die große Mehrheit der Deutschen wollte die Einheit, aber es gab auch viele kritische Stimmen. Mit der Ausstellung wollen wir ein vereinfachendes Bild korrigieren, demzufolge nach der Euphorie des Mauerfalls relativ schnell eine große Desillusionierung und Enttäuschung einsetzte. Wir finden beides: Es gibt viele Beispiele dafür, dass Ostdeutsche die sich im Zuge der Vereinigung bietenden Chancen genutzt und einen Neuanfang gewagt haben, in dem sie sich beruflich umorientiert und ihr bisheriges Leben geändert haben. Es gibt viel Aufbruch, aber auch die vielfach geteilte Erfahrung, dass nicht alle Erwartungen, die man an den Westen hatte, erfüllt wurden. Die Ausstellung enthält insofern auch die indirekte Aufforderung, dass vor allem die Ostdeutschen selbstbewusster mit dieser Zeit umgehen sollten. Sie waren es, die in den 1990er-Jahren vorgemacht haben, wie eine ganze Gesellschaft mit Herausforderungen umgehen und dabei Konflikte meistern kann. Diese Leistung wird bislang zu wenig anerkannt.
Wie illustrieren Sie die abweichende Haltung etwa von Ost- und Westdeutschen, die die Einheit ablehnten oder ihr kritisch gegenüberstanden?
Die unterschiedlichen Haltungen zur deutschen Einheit lassen sich nicht immer in klar abgrenzbaren Lagern ausmachen. Das wäre zu einfach. Oft bilden Zustimmung und Verunsicherung, Akzeptanz und Kritik ein Spannungsverhältnis, das sich durch ein und dieselbe Biografie zieht. Viele haben sich trotz positiver Grundeinstellung auch Fragen gestellt: Wie gehen die Deutschen damit um, dass sie wieder eine große und einflussreiche Nation sind? Entwickelt sich ein neuer Nationalismus? Sicher war die Kritik an der deutschen Einheit und der Form, in der sie vollzogen wurde, im linken politischen Spektrum am größten. Die Gegen- und Protestkultur bis hin zur Punkmusik zeigen wir selbstverständlich auch.
Inwiefern ist diese Zeit bereits erforscht?
Für die Zeitgeschichte im Gegensatz zu den Sozialwissenschaften ist das ein relativ neues Feld. Bisher haben sich Einrichtungen wie das Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam (ZZF) mit der deutsch-deutschen Geschichte zwischen 1945 und 1989 beschäftigt. Neuerdings geraten historische Prozesse in den Blick, die bis in die Gegenwart hinein reichen. Dabei sollte die Alltags- und Erfahrungsgeschichte eine wichtige Rolle spielen. Am ZZF wird zur Zeit ein größeres Forschungsvorhaben vorbereitet, das sich mit der „langen Geschichte der Wende“ beschäftigt und danach fragt, wie bestimmte Entwicklungen über die Zäsur von 1989 hinweg verlaufen sind.
Wo sehen Sie Leerstellen?
Kaum erforscht ist bisher, wie sich der Wandel der Eigentumsordnung im Osten vollzogen hat und wie die Menschen damit umgegangen sind. Welches Gewicht hatte diese Frage für das Klima in der Vereinigungsgesellschaft? Welche sozialen Auseinandersetzungen waren damit verbunden? Im Gürtel um Berlin herum waren ganze Ortschaften fast vollständig von Rückübertragungsansprüchen betroffen. Wenig erforscht ist auch der Umbruch in der Arbeitswelt – zumal die Akten der Treuhand noch nicht zugänglich sind.
Inwiefern trifft das Klischee vom konsumgesteuerten Ostdeutschen und vom kaltblütigen West-Manager den Nerv der ersten Hälfte der 90er-Jahre?
Für den Historiker ist eher interessant, die Entstehung von Stereotypen und Klischees zwischen Ost und West in ihren zeitlichen Kontext einzuordnen und ihre Wirkungsmacht für die Gesellschaft zu untersuchen. Wir haben es dabei mit einem Phänomen zu tun, das stark durch die Medien geprägt wurde. Man muss sich deshalb mit der Rolle der Medien in der Vereinigungsgesellschaft beschäftigen. Gleichzeitig ist der Frage nachzugehen, was an durch die DDR vorgeprägten Vorstellungen über den Westen die Zäsur von 1989 überdauert hat und durch Erfahrungen in der neuen Gesellschaft aktualisiert wird. Inwiefern verändert es sich, wird überprüft oder bestärkt?
Gibt es schon eine Antwort darauf, ob die vor 89 voneinander geprägten Vorstellungen sich danach verstärkt haben?
Ich hüte mich davor, darüber abschließend zu urteilen. Aber wir können beobachten, dass bestimmte Vorurteile, die es gegenüber dem Westen gegeben hat und die durch Politik und Ideologie in der DDR geprägt waren – etwa die Vorstellungen vom Kapitalismus –, durch bestimmte negative Erfahrungen mit der Vereinigung revitalisiert wurden. In anderen Fällen haben Menschen den Erfahrungs- und Prägungshorizont der DDR relativ schnell verlassen, sich ganz frei davon neu orientiert und diesen Ballast schnell abgeworfen.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Interessant ist in diesem Zusammenhang, wie die Ostdeutschen nach 1990 mit den Dingen des Alltags umgegangen sind. Unmittelbar nach der Währungsunion konnte man sehen, wie viele im Osten ihr bisheriges Leben in den Abfallcontainern entsorgt haben. Erst später findet eine Rückbesinnung statt: Die Menschen haben gelernt, dass vieles, was sie vor 1989 umgeben hat, zu ihrer Biografie gehört. Immer wieder wird das als rückwärtsgewandte Ostalgie missverstanden. Es hat aber eher damit zu tun, dass viele Ostdeutsche während des rasanten Umbruches der Gesellschaft nach 1990 keine Zeit hatten, ihre Erfahrungen in und mit der DDR ausreichend zu verarbeiten. Zumal diese Lebenserfahrungen lange Zeit unter dem Verdikt eines falschen Lebens in der Diktatur standen.
Würde es sich lohnen, sich die Geschichte der positiven Klischees vorzuknöpfen?
Es gibt viele Prägungen und mentale Unterschiede zwischen Ost und West, die inzwischen von der jeweils anderen Seite mit mehr Toleranz und Verständnis wahrgenommen werden. Vieles, was man als „ostdeutsche Tugenden“ allein aus der Not der DDR-Gesellschaft abgeleitet hat, zum Beispiel die sprichwörtliche Improvisationsfähigkeit oder der Pragmatismus der Ostdeutschen, konnte sich in einer Situation von gesellschaftlichem Umbruch neu bewähren. Auch die im Zuge der Einheit aufgekommene Diskussion über die Arroganz der Westdeutschen ist deutlich abgekühlt, weil es neben der Bestätigung dieses Vorurteils inzwischen viele gegenläufige Erfahrungen im Alltag gegeben hat. Langsam setzt sich dieser aufgewirbelte Kaffeesatz der Stereotype und Klischees wieder. Diese Dinge werden inzwischen mit viel mehr Ironie und Humor verhandelt.
Das Gespräch führte Isabel Fannrich-Lautenschläger
Die Ausstellung „Alltag Einheit. Porträt einer Übergangsgesellschaft“ ist vom 27. Mai bis 3. Januar 2016 im Deutschen Historischen Museum Berlin zu sehen
ZUR PERSON: Jürgen Danyel (56) ist Historiker am Potsdamer Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF). Er hat die aktuelle Ausstellung im Deutschen Historischen Museum mit kuratiert.
Isabel Fannrich-Lautenschläger
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