Landeshauptstadt: In den Problem-Ecken
Gewalt, Alkohol: Was Straßensozialarbeiter von jungen Potsdamern hören und sehen
Stand:
Kranke Jungen, die nicht zum Arzt gehen, weil sie die zehn Euro Praxisgebühr nicht zahlen können. Mädchen, die nach Sex ohne Kondom kein Geld für einen Schwangerschaftstest haben. Jungs, die nach dem Unterricht zu hartem Alkohol greifen; oder die auf dem Weg zum knallharten Nazi sind. Mädchen, die regelmäßig von ihrem Freund verdroschen werden. Mirjam Kieser hört viele solcher Stories.
Die 37-jährige Streetworkerin ist Chefin der Wildwuchs-Straßensozialarbeiter, die auf Rundgängen durch die Stadt Cliquen ansprechen und ihnen Hilfen anbieten. Jeden Freitag haben die Streetworker ihre wichtigste Schicht: Ab 19 Uhr gehen sie durch die Innenstadt, wenn Potsdams Jugend rund um den Bahnhof herum das Wochenende beginnt. „Dort gibt es bis 22 Uhr Alkohol, der billiger als in Clubs ist“, sagt Mirjam Kieser kurz vor dem Aufbruch am Freitag vor einer Woche. Dieses Mal sind Mareen Müller und Stephan Mertens ihre Kollegen.
19.00 Uhr, Platz der Einheit: Wo sonst Punks sind, sitzt an diesem Freitag niemand. Regenschauer sind gerade über die Stadt gezogen, die Luft ist schwül. Ein Platz ohne junge Leute ist für Stephan Mertens ein ungewöhnliches Bild, gerade in dieser Zeit. „Wir treffen immer mehr Cliquen an, die auf der Straße abhängen“, sagt der 32-Jährige, der seit sechs Jahren in Potsdam arbeitet. Die Gründe für den Trend sind ihm klar: Etwa die Schließung des Spartacus, aber auch generell weniger bezahlbare Angebote für Jugendkultur.
19.15 Uhr, Bahnhof, Eingang Lange Brücke: Der erste Kontakt des Tages. Lars, André und René* sind 14, 15 und 16 Jahre alt, rauchen und haben einen fast leeren Bierkasten dabei. Die Streetworker kennen die Jungen vom Schlaatz, regelmäßig kommen sie zu Fußballspielen, die die Sozialarbeiter alle zwei Wochen organisieren. Doch heute geht es nicht darum. Lars hat ein Problem. Ein „Typ“ schulde ihm Geld, 350 Euro, und wolle nicht zahlen. Im Gegenteil: Lars fühlt sich bedroht. „Der will mir auf die Fresse hauen.“ Zudem renne sein Gegner immer mit „einer Knarre“ durch die Stadt, jüngst habe er damit sogar Leute auf dem Rummel bedroht. Als die drei Jungs gegangen sind, beraten die Sozialarbeiter, was sie tun sollen. Möglicherweise ist die Sache mit der Pistole ja nur übertrieben? Sie wissen es nicht genau. „Vielleicht bekommen wir sie ja dazu, bei der Polizei eine Anzeige zu erstatten“, hofft Mirjam Kieser.
19.45 Uhr, Nuthe-Park, Angelstelle: Zwei etwa 18 Jahre alte Jungen sitzen auf einer Bank, Bier und eine fast leere Flasche Gebirgskräuter daneben. Nach Berlin soll es noch gehen, berichten sie einsilbig. Die Sozialarbeiter geben ihnen Flyer mit ihren Kontaktdaten, gehen und suchen weiter nach Jugendgruppen in den verwinkelten Ecken rund um die Freundschaftsinsel.
20.00 Uhr, Nuthe-Park, Bank am Havelufer: Moritz hat keinen Ausweis, muss aber Anfang August zu einer Verhandlung am Amtsgericht gehen. Dazu besitzt er keine Wohnung, sondern bettelt sich durch Babelsberg und schläft in einem Zelt. Den Punk und ein paar seiner Freunde haben die Jugendsozialarbeiter gerade entdeckt, ihnen mitgebrachte Socken und Shampoo geschenkt. Das Gespräch mit der Gruppe ist nicht ganz einfach: Eine umgeworfene Wasserpfeife und leere Bierflaschen zeugen vom beginnenden Rausch. Besonders Moritz hat zu viel getrunken, der verlebt aussehende junge Mann riecht nach Alkohol und Schweiß, einige offene Wunden überziehen seine Hände. Ob er nicht einmal bei den Streetworkern vorbeikommen wolle, um sich zu duschen, fragt Stephan Mertens. „Nein“, lehnt der Punk ab, begründet das mit seiner Angst vor „den Bullen.“ Kurz danach schimpft er jedoch auf die Sozialarbeiter, die nie da seien, „wenn man sie braucht.“ Mirjam Kieser, die mit ihm zum Amtsgericht gehen will, lässt sicht nichts anmerken: „Das muss man in diesem Job abkönnen.“ Nach der Verabschiedung sagt Stephan Mertens, dass solche Fälle die Grenzen der Sozialarbeit zeigen: Wo kein Vertrauen ist, gäbe es nur wenige Handlungsmöglichkeiten.
20.30 Uhr, Lange Brücke: Noch so ein regelmäßiger Treffpunkt von jungen Leuten, Scherben und Kippenreste unter dem Meyerohr zeigen das. Auch heute hat sichhier eine Gruppe getroffen, nach kurzem Zögern kommen sie mit den Streetworkern ins Gespräch. Vor allem Gewalt ist ein Thema, einer der jungen Männer mit den kurzen Haaren fühlt sich an seiner Babelsberger Schule von „Linken“ bedroht. Auch Türken hätten ihn schon „abgezogen“. Sein 28-jähriger Kumpel aus Caputh kennt solche Situationen, hat früher selber gern zugeschlagen, wenn er Wut auf andere bekam. Jetzt wird er bald Papa – und drischt auf Sandsäcke ein oder gegen die Kellerwand, „wenn ich Aggressionen habe“. Mirjam Kieser bietet ihm ein professionelles Anti-Aggression-Training an. Er schaut sie skeptisch an.
21.00 Uhr. Rückweg: Nach so einem Einsatz sind Stephan Mertens zwei Aussagen wichtig: Manche der betreuten jungen Leute haben den Sprung ins normale Leben geschafft, „dafür hat es sich gelohnt.“ Und zweitens seien nicht alle Jugendlichen so problembeladen, Streetwork sei vor allem die Perspektive des Straßenlebens mit seinen Tragödien. Doch wie lässt sich damit umgehen? Mareen Müller ist mit 24 Jahren die jüngste Wildwuchs-Mitarbeiterin, während des Rundgangs agiert sie gelassen. Am Ende sagt sie: „Ich muss immer eine halbe Stunde mit dem Fahrrad nach Hause fahren – zum Kopf abkühlen.“
* Namen aller Jugendlichen von der Redaktion geändert
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: