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Landeshauptstadt: Inklusive Sexualität
Nina de Vries über ihren Beruf, Bedürfnisse von behinderten Menschen und Kennenlernpartys für Heimbewohner
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Nina de Vries ist ein wenig misstrauisch vor dem Gespräch. Wird sie sich verständlich machen können? Die richtigen Worte finden für ein Thema, über das viel zu wenig gesprochen wird, obwohl es, findet sie, doch ganz normal ist: Sexualität und Menschen mit Behinderungen.
Die Holländerin de Vries, Anfang Fünfzig, sitzt in einem Café auf der Terrasse und blinzelt in die Sonne. „Sehen Sie, dort am Nachbartisch saß bis eben eine Gruppe Menschen mit kognitiven Behinderungen. Dass das keinen stört, gehört auch zur Inklusion“, sagt de Vries, die seit 1998 in Potsdam lebt. Inklusion bedeute aber auch anzuerkennen, dass alle Menschen sexuelle Wesen sind. Nina de Vries hat diese Erkenntnis für sich ganz praktisch umgesetzt und damit ihren Beruf gefunden. Sie ist im Land Brandenburg vermutlich die erste und einzige Sexualassistentin. Sie hilft Menschen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen, ihre Sexualität zu entdecken und zu erleben. Das kann bedeuten, einen Klienten in einer Behinderteneinrichtung, im Seniorenheim oder zu Hause mit einer sinnlichen Massage bei Kerzenlicht und Musik bis zu einem Orgasmus zu begleiten. Das bedeutet aber auch und vermehrt Aufklärungsarbeit für Eltern, Angehörige, Heimpersonal, Schulungen und Weiterbildungen, wie man mit der Sexualität von Bewohnern umgehen kann, seien das pubertierende Jugendliche oder ältere Menschen.
Am heutigen Freitag ist de Vries im Filmmuseum zu Gast: Dort findet noch bis Sonntag das inklusive Filmfestival der Aktion Mensch statt. Im Anschluss an den australischen Film „Rachels Weg. Aus dem Leben einer Sexarbeiterin“ nimmt de Vries gemeinsam mit Matthias Vernaldi von „Sexybilities – Arbeitsgemeinschaft für selbstbestimmtes Leben schwerstbehinderter Menschen“ an einer Gesprächsrunde teil. Mittlerweile nehmen die Öffentlichkeitsarbeit und ihre Teilnahme an Konferenzen einen immer höheren Stellenwert ein. Der Schulbuchverlag Cornelsen hat de Vries gebeten, an einem Lehrbuch für Heilpädagogen mitzuwirken. Das wurde höchste Zeit, findet sie. „Das Pflegepersonal wird auf alles vorbereitet, nur nicht auf Sexualität, die haben dafür nicht mal eine Sprache“.
Die sexuellen Begegnungen mit Menschen, die eine kognitive Beeinträchtigung haben, seien für sie besonders interessante Herausforderungen gewesen, sagt de Vries. Mitte der 1990er Jahre begann sie, tantrische Massagen anzubieten, machte erste Erfahrungen mit zumeist körperlich Behinderten, denen sie sexuelle Handlungen anbot und spürte, dass sie das gut konnte. Seit einigen Jahren arbeitet sie fast ausschließlich mit Klienten mit Schwerstmehrfachbehinderungen. Als „Menschen, die kein Konzept haben für ihre Sexualität“, beschreibt sie diese; Menschen, die aber dennoch spüren, dass da Bedürfnisse sind und diese oft viel deutlicher als andere nach außen tragen. Um das auszuleben, brauchen sie Unterstützung, eine Dienstleitung eben.
Seit 2001 nennt sich die gelernte Masseurin und Therapeutin mit Erfahrungen aus dem Rehabereich Sexualbegleiterin, ändert einige Jahre später den Begriff in Sexualassistentin. Mittlerweile bildet sie selbst welche aus. Wenn man ihr zuhört, scheint der Bedarf gerade an Beratung und Betreuung groß. De Vries nennt diese Arbeit passive Sexualassistenz: Manchmal organisiert sie eine Kennenlernparty für Bewohner verschiedener Heime, vielleicht braucht auch jemand einen Besuch bei Pro Familia oder „seinen sehnlichst erwarteten Besuch im Puff“.
Dass manche sie immer noch als Prostituierte einordnen, stört Nina de Vries. Sie möchte auch nicht, dass ein Foto von ihr in der Zeitung erscheint. „Ich will hier nicht beim Bäcker erkannt werden und mir etwas Privatsphäre erhalten“, sagt die Frau. Denn noch immer gebe es genug Leute, die mit dem Thema Sexualität ein Problem haben. Im Filmmuseum werden am heutigen Abend nur die sitzen, die sich für das Thema ernsthaft interessieren.
„Rachels Weg“ um 20 Uhr im Filmmuseum in der Breiten Straße 1a
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