Von Henri Kramer und Guido Berg: „Ist so etwas auch bei uns möglich?“
Reaktionen zum Amoklauf / Aufruf zu mehr Sensibilität / Zahl der Waffen in Potsdam steigt
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Der Amoklauf eines 17-Jährigen in der Albertville-Realschule in Winnenden hat auch an Potsdamer Schulen zu Entsetzen, Trauer und Nachdenklichkeit gesorgt. „Für die Schüler ist es ein Schock, das kennen sie nur aus dem Film, nicht aus der Praxis“, sagte gestern Dr. Carola Gnadt, Leiterin des Humboldt-Gymnasiums. In allen Kombinationen hätten sie den Tag über diskutiert – Lehrer mit Schüler, Schüler mit Schüler, Lehrer mit Lehrer. Stets sei es um das tiefe Mitgefühl gegangen, das ein jeder für die Opfer und deren Angehörigen hegt.
Im Einstein-Gymnasium ist in den ersten beiden Unterrichtsstunden in allen Klassen und Kursen über die Tat gesprochen worden, so Schulleiter Dieter Born-Frontsberg. Die Schüler seien traurig darüber, dass so etwas passieren kann. Sie versuchten, „der Sache auf den Grund zu gehen, konnten aber keine rationale Begründung dafür finden“. Ein wichtiges Augenmerk habe auf die Frage gelegen: „Ist so etwas auch bei uns möglich?“ Born- Frontsberg: „Meine Schüler schließen das aus.“ Sie wollten „auf Schülern, die in diese Richtung geraten, zugehen, sie ansprechen, nicht darüber hinwegsehen“.
Carola Gnadt gibt zu bedenken, dass der Täter vor der Tat sehr unauffällig war. Auch Schulleiter Born-Frontsberg ahnt, dass bei der Hoffnung auf völligen Ausschluss der schrecklichen Möglichkeit „ein wenig Verdrängung dabei ist“. Seine Kollegin von Humboldt-Gymnasium sagt: „Keine Schule ist gefeit vor diesem Problem.“ Jede Schule aber könne viel dafür tun, das Risiko von Gewalt an der Schule zu minimieren. Carola Gnadt: „Wichtig ist ein gutes Schulklima.“ Schüler und Lehrer müssten ein offenes Ohr haben für die Probleme der anderen; Konflikte müssten so ausgeräumt werden, „dass der andere sein Gesicht nicht verliert“. Individuelle Förderung sei wichtig, „der Schüler muss sich als Individuum wahrnehmen“. Einen Schulpsychologen gebe es am Humboldt-Gymnasium nicht, jedoch von Schülern gewählte Vertrauenslehrer „und eine Kollegin, die Psychologie lehrt“, erklärt die Schulleiterin. Zur Lernwerkstatt gehöre ein Baustein, bei dem es um Schulstress und Prüfungsangst gehe: „Was sind die körperlichen Anzeichen von Stress, wie kann ich Stress abbauen?“
In der Albertville-Realschule gab es einen verschlüsselten Warncode für die Lautsprecheranlage: „Frau Koma kommt“ – Koma heißt rückwärts gelesen Amok. Dazu Humboldt-Schulleiterin Carola Gnadt: „Wir haben auch Vorkehrungen, aber nicht derartige.“
Für die Schulen im Land verfügt auch die Polizei nach Auskunft des Brandenburger Innenministeriums über ein „spezielles Einsatzkonzept für einen solchen Fall, das ein schnelles und offensives Handeln der Polizei zum Ziel hat.“ Details nannte Ministeriumssprecherin Dorothée Stacke nicht. Sie verwies allerdings auf regelmäßige Fortbildung von Polizisten für solche Fälle. Die letzte Handlungsempfehlung zum Thema Amoklauf sei zwei Jahre alt: „Es geht dabei um ein sofortiges Reagieren auf Anzeichen wie verbale Drohungen oder aggressive Zettelbotschaften von Schülern.“ Zu Sensibilität bei solchen Vorfällen mahnte gestern auch Brandenburgs Bildungsminister Holger Rupprecht (SPD): „Ein auf die Wände einer Schultoilette gekritzelte Ankündigung eines Blutbades ist kein Dummer-Jungen-Streich – es ist eine klare Grenzüberschreitung.“ Allerdings würden Schulleiter in den vergangenen Jahren „meist“ schnell reagieren und Konsequenzen ziehen, betonte der Minister.
In Potsdam hatte in diesem Monat die Meldung für Erschrecken gesorgt, dass vier Schüler an der Goethe-Schule in Babelsberg offenbar mit Vorsatz den Gashahn im Chemiekabinett aufdrehten und dann den Raum verließen. Der Schulleiter hatte sich allerdings erst nach Aufforderung der Eltern mehrere Tage später an die Polizei gewandt, die nun wegen des Verdachts der Herbeiführung einer Sprengstoffexplosion ermittelt. „Wir prüfen noch Konsequenzen“, sagte gestern Stephan Breiding, Sprecher des Bildungsministeriums.
Auch die Potsdamer Sportschützen müssen damit umgehen, dass es bei dem Amoklauf in Winnenden – wie schon beim Erfurter Schulmassaker – der Schießsport ist, der die Tat begünstigte. Doch schärfere Waffengesetze würden nicht helfen, sagt der Vorsitzende des SV Spaß am Schießen Potsdam e.V., Herbert Dummer: „Es kommt auf die Einhaltung der Gesetze an.“ Der Vater des Amokläufers von Winnenden, der nach bisherigen Erkenntnissen eine Beretta-Pistole unverschlossen im Schlafzimmer aufbewahrte, habe gegen das Gebot verstoßen, seine Waffe „gegen fremden Zugriff zu sichern“. Würden „Kurzwaffen“ zu Hause aufbewahrt, gehörten sie in einen doppelwandigen, mehrfach verschlossenen Waffenschrank, der mindestens zwei Zentner wiegen oder verankert sein muss. Eine besondere Sorgfaltspflicht sei geboten, wenn sich Jugendliche im Haushalt befinden. Der Vereinschef sagt, der Schießsport sei nicht für die Tat verantwortlich: „Es sind nicht die Waffen, die töten, sondern die Menschen.“ Dummer verweist auf gesellschaftliche Probleme: Die Jugend brauche sinnvolle Aufgaben und sollte nicht sich selbst überlassen sein. Es gebe Eltern, „die nicht wissen, was ihre Kinder tun.“
Auch Brandenburgs Innenminister Jörg Schönbohm (CDU) lehnte eine weitere Verschärfung des Waffengesetzes ab. Die Auflagen für den Waffenbesitz seien in den vergangenen Jahren bereits erhöht worden und „in der Auslegung sehr klar und eindeutig", sagte Schönbohm gestern. Der Minister warnte zudem vor einer pauschalen Verunglimpfung von Schützenvereinen. „sie leisten gute Jugendarbeit und sind ein wichtiger Bestandteil der deutschen Tradition".
Unterdessen steigt in Potsdam die Zahl der registrierten Schusswaffen. Wie die Polizei gestern auf Anfrage mitteilte, existieren in der Landeshauptstadt derzeit 1864 Pistolen und Revolver. 2004 waren es noch 1422. Die Zahl der Gewehre stieg im selben Zeitraum von 876 auf 1126. „Die Zunahme liegt auch daran, dass wir seit 2003 sehr viele Zugänge durch Umzug aus den alten Bundesländern verzeichnen“, sagte Potsdams Polizeisprecherin Katrin Laurisch. Im gesamten Land Brandenburg gibt es laut dem Innenministerium 115 000 erlaubnispflichtige Schusswaffen, die 27 000 Personen gehören.
Flaggen am Stadthaus und anderen öffentlichen Gebäuden von Potsdam wehen seit gestern auf Halbmast. Sie sind das sichtbare Zeichen für die Trauer. Auch die Evangelische Kirche hat reagiert und für den frühen Sonntagabend eine besondere Predigt angekündigt (siehe Kasten). Stadtkirchenpfarrer Markus Schütte sagte gestern: „Wir möchten versuchen, diese Situation in Worte zu fassen, obwohl solche Momente eigentlich traurig und sprachlos machen.“
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