Homepage: Jeder kann Mitläufer werden
Joachim Gauck am HPI in Potsdam über das System DDR
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Er möchte ihnen erklären, wie Ossis so ticken, warum die Führung wollen, warum die oft unselbstständig sind. Aber eigentlich will Joachim Gauck den 200 Informatik-Studenten im Hörsaal des Hasso-Plattner-Instituts (HPI) an der Uni Potsdam etwas zeigen: Den Mitläufer in jedem Menschen. Die meisten blicken erwartungsvoll auf den Bundesverdienstkreuzträger, aber einige schauen in ihre Laptops, wie Masterstudent Gerald Töpper oder der Erstsemester Richard, der lieber im Netz surft.
Das HPI hatte den gelernten Pastor Gauck im Rahmen einer Vortragsreihe eingeladen. Im so genannten Softskill-Kolloquium sollen die Studenten für das Leben lernen. Es gibt Vorträge über Rhetorik, Prüfungsstress und dazwischen immer wieder prominente Referenten. „Vor kurzem war Philipp von Senftleben hier und hat übers Flirten geredet“, erinnert sich Gerald Töpper. Letztes Jahr kam auch Günther Jauch und erklärte den Umgang mit Erfolg. Nun also Jochim Gauck, erster Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR.
Der 69-Jährige redet heute nicht über die Ideologie der DDR. Die meisten Zuhörer sind um die 20, echte Gesamtdeutsche, junge Leute. Viele kennen die DDR nur aus Erzählungen, wie Gerald Töpper und Richard. Joachim Gauck doziert über Mitläufer und wie Menschen dazu werden. Gerald Töpper und Richard tippen weiter auf ihren PCs, andere lauschen gespannt. Joachim Gauck erzählt vom Mädchen Maria, einer Viertklässlerin in der DDR. Die hat zu Hause einen Witz über Erich Honecker gehört und erzählt ihn eines Tages in der Schule, vor der Klasse. Die Lehrerin unterbricht das Mädchen und kündigt ihren Besuch bei den Eltern an, für den gleichen Abend. „Bei solchen Besuchen möchte die Lehrerin beide Eltern antreffen,“ erklärt Gauck. Die Lehrerin habe der Mutter erklärt, so ein Witz sei strafbar, dafür könnte sie ins Gefängnis kommen.
Die Eltern würden nun beschließen, vor ihrer Tochter nichts Politisches mehr zu sagen. Joachim Gauck hält inne. „Wissen Sie, was das bedeutet?“ Zwei Menschen hätten beschlossen, dem Menschen, den sie am meisten lieben, nicht mehr die volle Wahrheit zu sagen. Stille im Saal, Richard klappt seinen Laptop zu, Gerald Töpper schaut nach vorn und lauscht. Gauck reiht Beispiel an Beispiel, wie Menschen in ein Gesellschaftssystem kommen, nicht gedrückt, eher gelockt.
Der gelernte Pastor erschafft Marias Ehemann, Paul einen Arzt. Der kommt eines Tages nach Hause und berichtet vom möglichen Karrieresprung zum Professor – da gäbe es nur einen Haken, er müsste in die Partei eintreten und wisse nicht, ob er das wolle. Da fragt Joachim Gauck: „Nun meine Damen, was würden sie ihrem Mann sagen? Und meine Herren, wie würden sie entscheiden?“ Der Saal ist 200 mal still, ganz still. Gerald Töpper grübelt lange und sagt: „Ehrlich, vielleicht, nein ich weiß es nicht.“ Richard klappt seinen Laptop wieder auf: „Das kann ich nicht beurteilen.“
Dann holt Joachim Gauck seine Zuhörer aus einer gedachten Vergangenheit in die Gegenwart. Er fordert die jungen Leute auf, sich zu engagieren: „Früher war es die Partei, gegen die man angeblich nichts machen konnte, heute vielleicht die Macht des Kapitals.“ Ausreden ließen sich viele finden. Doch Demokratie entstehe nicht durch Nichtstun, sondern durch diskutieren, handeln und fragen. Ob nun bei Greenpeace oder in einer Partei, Hauptsache Engagement.
Gauck schlägt den Studierenden vor, sie könnten mit ihren Eltern oder Bekannten über die DDR reden. Auch jene Leute fragen, die heute sagen, es war ja nicht alles schlecht. Aber das werden Gerald Töpper und Richard nicht tun. „Das bringt nichts.“ Joachim Gauck nickt da nur traurig: Schade, er hofft, dass sie sich wenigstens woanders engagieren. Gerald Töpper hat jedoch auch dafür vorerst keine Zeit. Mathias Hamann
Mathias Hamann
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