Von Peer Straube: „Kannst du nicht unsere Mama sein?“
Kathrin Krebs-Kannler und ihr Mann Oliver leben in Groß Glienicke in einer Großfamilie – allerdings ist es nicht ihre eigene
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Schicksalsfamilie. Kathrin Krebs-Kannler lächelt, als sie das Wort ausspricht. Bedeutungsschwer klingt das, nach Verantwortung, nach widrigen Umständen. Doch spricht das morgendliche Bild in dem geräumigen Haus einer Groß Glienicker Waldrandsiedlung eine andere Sprache, eine ungleich fröhlichere. Artig mampfen die sechs Kinder ihr Müsli, die Kleineren schnattern vergnügt, Ranzen werden gepackt – eine ganz normale, wenn auch große Familie, könnte man meinen.
Doch eine gewöhnliche Familie, so viel ist sicher, ist dies nicht. Von den sechs Kindern am Tisch ist nur eines das leibliche von Kathrin Krebs-Kannler und ihrem Mann Oliver – Christoph, bald 16 Jahre alt. Die anderen fünf stammen aus schwierigen Elternhäusern, Katrin Krebs-Kannler hat sie aufgenommen und betreut sie. „Familienanaloge Wohngruppe“ heißt das im etwas sperrigen Verwaltungsdeutsch. Dahinter verbirgt sich der Versuch, den wegen zerrütteter Familienverhältnisse nicht selten schwer traumatisierten Kindern ein neues Heim zu bieten, Sicherheit und Geborgenheit zu geben. Eine Familie, wie sie sein soll. Kathrin Krebs-Kannler arbeitet für die Gemeinnützige Gesellschaft für Soziale Hilfen in Berlin/Brandenburg (SHBB), ein anerkannter Träger der Jugendhilfe. Über ihn fanden die dreijährige Anna, ihre beiden Geschwister Tim (5) und Franziska (8) sowie der ebenfalls achtjährige Kevin und der zwölf Jahre alte Robert* bei Kathrin Krebs-Kannler und Oliver Kannler ein neues Heim.
Die Entscheidung fiel vor zehn Jahren. Das Paar – sie arbeitete als Heilpädagogin bei Leipzig, er für die Bundeswehr erst in Dresden, dann in Cottbus – beschloss eine „Familienzusammenführung“ am Rande von Berlin. Groß Glienicke sollte sich als schicksalhafte Wahl erweisen. Katrin Krebs-Kannlers Cousine lebte bereits dort – und sie hatte ebenfalls Kinder aus problematischem Umfeld aufgenommen. Einige Jugendhilfeträger suchten damals Mitarbeiter per Zeitungsinserat. „Eines Tages wedelte mein Mann mit einer solchen Anzeige“, erzählt Krebs-Kannler, „und fragte ,wäre das nicht etwas für dich?’“. Es war.
Dass der Anfang nicht leicht war, bestätigen beide. Die ersten Fälle waren Jugendliche, aus Berliner Problembezirken zumeist, Elf- bis 16-Jährige aus schwierigstem sozialen Umfeld. Mancher konnte und wollte sich nicht mehr an ein geborgenes und Dasein mit festen Tagesstrukturen gewöhnen. „Das hat unser Familienleben sehr stark belastet“, gibt Krebs-Kannler offen zu. Nicht zuletzt der eigene Sohn habe unter der Situation gelitten. War es diesen Preis wert? Eine Frage, die sie sich damals öfter gestellt haben. Doch sie hielten durch. Es kamen andere, jüngere Kinder. Solche, die Hilfe dankbar annehmen. So wie Anna und ihre Geschwister. „Hochtraumatische und ganz schreckliche Erlebnisse“ hätten alle drei gehabt, sagt Kathrin Krebs-Kannler voller Mitgefühl. Vor allem die Kleinste habe dauernd geweint und geschrien. Heute scheinen alle wie verwandelt. Anna mault ein bisschen, weil ihr beim Gekämmtwerden die Kopfhaut ziept. Es gibt ein bisschen Gebalge um Lutscher. Das Übliche unter Kindern. Dass es so weit aufwärts ging, ist „allen möglichen Therapien“ zu verdanken, sagt Krebs-Kannler. Und dem geregelten Tagesablauf, der Zuwendung, der Liebe, die ihnen das Ehepaar bietet. „Oberstes Ziel“, sagt Oliver Kannler, „ist natürlich die Rückführung der Kinder in die eigene Familie“. Doch wissen beide, dass es zumindest bei Anna, Tim, Franziska und Kevin wohl nicht dazu kommen wird. Das Verhalten der jeweiligen Elternteile biete dafür „keine Perspektive“, sagt Krebs-Kannler. Sie werden demnach bleiben, vermutlich, bis sie 16 sind, um dann nach und nach ein eigenes Leben zu führen.
Die soziale Chance, die das Paar den Kindern bietet, hat ihren Preis. „Manchmal renne ich von morgens um fünf bis abends um neun von Termin zu Termin“, sagt Kathrin Krebs-Kannler. „Dann bin ich fix und fertig.“ Zwei Stunden sind morgens allein locker weg, bis alle Kinder verteilt sind: Anna und Tim in die Kita, Kevin zur Grundschule im Ortsteil, Franziska und Robert zur Schule nach Potsdam.
Vor kurzem erst sei sie dann „einfach zusammengeklappt“. Sie musste ins Krankenhaus. Die Reaktion der Kinder zeigt den Stellenwert, den ihre Ersatzeltern längst bei ihnen genießen. „Hochgradig verstört“ seien sie gewesen, berichtet Krebs-Kannler. „Kommst du wieder?“, sei sie gefragt worden – ein Indiz, wie tief die Verlustängste sitzen. Auch, wenn die Kinder Kathrin und Olli sagen, die Bindung ist stark inzwischen. „Kannst du nicht unsere Mama sein?“ Die Frage werde schon gestellt. Doch hier lässt Krebs-Kannler keinen Zweifel aufkommen. Die Tür zum eigentlichen Elternhaus darf nicht verschlossen werden. „Sonst ist die richtige Mama traurig“, sagt sie ihren Schützlingen dann.
Doch auch, wenn die Ersatzmutter ausfällt, gibt es Ersatz. Krebs-Kannler teilt sich die Betreuung mit zwei Kollegen von der SHBB. „Der Träger unterstützt uns wirklich gut“, lobt Krebs-Kannler.
Die Wahl des Wohnorts hat die Familie nie bereut. „Groß Glienicke ist gesegnet mit schöner Natur“, schwärmt die 42-Jährige. Die Wochenenden werden gerade im Sommer gern für Ausflüge genutzt, zum nahen Sacrower See zum Beispiel. Dennoch, Probleme gibt es auch. „Es fehlt an Spielplätzen“, klagt Krebs- Kannler. In der Tat gibt es lediglich zwei. „Das ist ein Lacher“, sagt sie ärgerlich. Mit dem Grad des Straßenausbaus ist sie ebenfalls unzufrieden. Die vielen Holperpisten in den Nebenstraßen machen nicht nur dem Fahrdienst das Leben schwer, der die Kinder zur Schule bringt. Und dann gibt es ja noch den Uferweg-Streit, aus dem sich die Großfamilie jedoch heraushält. Sie verfolge das in der Presse, „mal erheitert und mal schockiert“, erzählt die Frau. Was Krebs-Kannler aber wirklich mitnimmt, ist „eine gewisse Klientel, die uns mit gerümpfter Nase betrachtet“. Vor allem die Kinder litten darunter, weil sie ausgegrenzt würden. Die meisten dieser Vorurteile beruhten schlicht auf Unwissenheit, glaubt Krebs-Kannler. „Ich wünsche mir einfach mehr Akzeptanz und Aufgeschlossenheit“, sagt sie.
Inzwischen ist es Nachmittag geworden, die Kinder sind aus Kita, Hort und Schule zurück. Sie vergnügen sich im Garten, während die Ersatzmutter die Abrechnungen für ihren Arbeitgeber schreibt. Papierkram. Doch es hat auch Probleme gegeben. Eines der Kinder hat etwas aus einem Einkaufsmarkt gestohlen – nicht zum ersten Mal. Generell komme das öfter vor, auch im Haus ließen manche gerne etwas mitgehen, untereinander werde ebenfalls geklaut. „Da ist es schon manchmal schwer, sich zu motivieren und nicht die Flinte ins Korn zu werfen“, sagt Krebs-Kannler. Aber sie weiß, „sie meinen nicht uns, sie versuchen, ihre traumatischen Erlebnisse aufzuarbeiten“.
Trotz aller Unbill funktioniert das Zusammenleben. Gemeinsame Mahlzeiten an den Wochenenden „sind gesetzt“. Da muss auch Sohn Christoph mit an den Tisch. Seinen Frieden mit der Situation hat er längst gemacht. „Am Anfang war es schon schwer, aber man gewöhnt sich dran“, sagt er. Inzwischen sähen die Kleineren in ihm den großen Bruder, der auch gern mal hilft. Der Job seiner Mutter scheint abgefärbt zu haben: Christoph macht derzeit ein Praktikum an der Grundschule, überlegt, ob er Lehrer werden will. Oliver Kannler ist mittlerweile ebenfalls daheim – seine Arbeitstage verbringt er im Bundeskanzleramt, als Referatsleiter Technik und Logistik. Kannler streicht Franziska sanft über den Kopf. „Die Kinder haben schon eine tolle Entwicklung gemacht“, sagt er versonnen. Das Schicksal meint es gut. (* Namen geändert)
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