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Landeshauptstadt: Keine Berichte geschrieben – „Vater sagt, ich soll nicht petzen“

Vortrag Helmut Müller-Enbergs über die vielen Spitzel der DDR-Staatssicherheit – Deckname „Judas“ war nicht erlaubt

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1990 lernten die Potsdamer den Westfalen Helmut Müller-Enbergs als Pressesprecher der Fraktion Bündnis 90 im Landtag Brandenburg kennen; zwei Jahre später kehrte er der Stadt wieder den Rücken. Auslöser war die aus seiner Sicht inkonsequente Arbeitsweise des Stolpe-Untersuchungsausschusses, dem er als Spezialist für Informelle Mitarbeiter (IM) der Staatssicherheit angehörte. In der Berliner Birthler-Behörde sorgte Müller-Enbergs dann durch seine Entlarvung von (auch westdeutschen) Politikern als Stasiagenten für Ärger. Seine Forschungsgruppe zur so genannten Rosenholzkartei wurde aufgelöst. Im Vorjahr mahnte ihn die Behörde ab, weil er ungenehmigt auf einer Tagung im dänischen Odense gegen die Selbstbeweihräucherung ehemaliger Stasi-Spitzenagenten auftreten wollte.

Am Dienstagabend war der streitbare Zeithistoriker im Alten Rathaus zu erleben. Von Oberbürgermeister Jann Jakobs vorgestellt, sprach er in einer Begleitveranstaltung zur Ausstellung „Feind ist, wer anders denkt“ über „Die inoffiziellen Mitarbeiter der Stasi. Dimensionen - Arbeitsweise - Folgen“. Um es vorwegzunehmen: Nach dem Bezirk Cottbus, wo ein Spitzel auf 84 Einwohner kam, nahm Potsdam mit einer Quote von 1:102 einen unrühmlichen Spitzenplatz ein. Kerntruppe waren die 5287 IMS im Havelbezirk, die man laut Müller-Enbergs wirklich als Spitzel bezeichnen könne. Insgesamt gab es aber mehr als 10 000 in Dutzenden Arten, vom einfachen GMS (Gesellschaftlicher Mitarbeiter für Sicherheit) über den F(Führungs)IM bis zum hochrangigen Auslandsagenten, dazu Spezialisten wie die IMKS zur Beobachtung und Sicherung von Treffs von Stasioffizieren mit IM in konspirativen Wohnungen. Den Decknamen konnte jeder selbst wählen, nur „Judas“ war verboten.

Viele SED-Mitglieder dienten auf diese Weise der Stasi, und besonders führende IM haben bis heute ihre Entlarvung gebremst und sind wieder politisch tätig. Der Landtag und die Potsdamer Stadtverordnetenversammlung machten da keine Ausnahme. Den Decknamen Dorn habe man erst 2001 dem SPD-Landtagsabgeordneten Henning Nase zuordnen können. Er sei gegen eine Geldbuße von 200 000 DM straffrei ausgegangen. Auch dies zeige, dass es nach 1990 eine von den Betroffenen als „Klassenjustiz“ diffamierte konsequente Verfolgung der Spitzeltätigkeit nicht gegeben habe, erklärte Müller-Enbergs. Nur für ein Drittel der bei den Überprüfungen entdeckten IM hätten sich berufliche Nachteile ergeben.

Übrigens wurde „nicht weit von Potsdam“ der jüngste aller 189 000 (1989) IM rekrutiert. Ein Elfjähriger wollte wegen schlechter Schulnoten das Klassenbuch vernichten. Dabei wurde er vom Hausmeister, einem IM, überrascht. Die Stasi verpflichtete den Jungen zum Ausspähen von Lehrern und Mitschülern. Über drei Jahre lang sagte er bei jedem Treffen seinem Führungsoffizier Berichte zu, lieferte aber keinen einzigen. Zur Rede gestellt, erklärte der nun 14-Jährige: „Vater sagt, ich soll nicht petzen.“ Dieser Junge, meint Müller-Enbergs, hätte nachträglich eine Ehrenmedaille verdient. E. Hoh

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