Von Erik Wenk: „Kinder waren nicht nur Opfer, sondern auch Retter“
Der Potsdamer Davyd Rozenfeld und sein Buch über Kinder und Jugendliche im Holocaust
Stand:
Stolz hält Davyd Rozenfeld sein Buch „Lebenswege – Heldentaten“ in den Händen, für das der Neunundsiebzigjährige in diesem Jahr den zweiten Platz des Potsdamer Integrationspreises gewonnen hat. Das Buch, das auch in Zusammenarbeit mit Studenten der Universität Potsdam entstanden ist, berichtet von Kindern und Jugendlichen, die zur Zeit des Holocaust dem NS-Regime ausgesetzt waren.
Damit ist es auch ein Buch über Rozenfeld selbst, denn der heute in Potsdam lebende Mathematik- und Informatiklehrer hat den Holocaust als Kind er- und überlebt: 1931 in Rumänien geboren, verlor er mit zehn Jahren seinen Vater durch rumänische Soldaten, und wurde mit seiner Familie zuerst in ein Lager und dann in das Ghetto von Bershad in Transnistrien, der heutigen Ukraine, getrieben. „Ich musste tagelang barfuß marschieren“, erinnert sich Rozenfeld. Die Funktion des Ghettos war Vernichtung, die Bewohner mussten unter unerträglichen Bedingungen leben – Kälte, kaum medizinische Versorgung, kaum Nahrung oder Wasser. „1942 starb meine Mutter im Ghetto, wenig später meine Schwester; ich hatte nur noch meinen vier Jahre älteren Bruder“, sagt Rozenfeld. 1944 wurden er von rumänischen Juden gerettet, die ihn in ein normales Kinderheim nach Rumänien brachten. Rozenfeld und sein Bruder haben überlebt.
Rozenfelds Buch erinnert aufrüttelnd daran, dass die Nationalsozialisten in ihrem Wahn auch vor Kindern und Jugendlichen nicht Halt machten; so gab es unter den Konzentrationslagern auch einige Jugend-KZ’s – von den Nazis zynischerweise als „Jugendschutzlager“ oder „Jugendverwahrlager“ bezeichnet, die zur Internierung widerständiger, „schwer erziehbarer“, „arbeitsscheuer“ und nonkonformistischer Kinder und Jugendlicher dienten. Eines war das 1942 errichtete KZ Litzmannstadt (Lódz), in dem mindestens 500 polnische Jugendliche ermordet wurden: Ursprünglich umfasste die Altersgruppe nur zwölf- bis 16-jährige Heranwachsende, 1943 wurde das Alter auf acht gesenkt, kurz darauf kam ein Block für Kleinkinder über zwei Jahre hinzu. Insgesamt wurden während des Nationalsozialismus’ rund 1,5 Millionen Kinder und Jugendliche ermordet; davon etwa 12 000 bis 13 000 jüdische Kinder in Deutschland.
Doch Rozenfelds Buch handelt nicht nur von Opfern, sondern vor allem von Rettern und Geretteten. Besonders erwähnt werden muss hier die 1910 in Warschau geborene, und vor zwei Jahren verstorbene Irena Sendler: Mit dem Decknamen „Schwester Jolanta“ und einem Passierschein, der ihr freien Zutritt zum Warschauer Ghetto gewährte, begann sie 1940 nach und nach immer mehr Kinder aus dem Sperrbezirk zu schleusen, um sie vor dem sicheren Tod im Vernichtungslager Treblinka zu bewahren. 2500 Kinder schmuggelte sie – manchmal in Kartons oder Säcken – aus dem Ghetto, wo sie anschließend in polnischen Familien, Waisenhäusern oder Klöstern untergebracht wurden und eine neue Identität bekamen. Ihre richtigen Namen vergrub Irena Sendler auf dünnen Zetteln in einem Einmachglas in ihrem Garten, damit die Kinder später ihre wahre Identität annehmen und zu ihren Angehörigen finden konnten. Als Sendler der Gestapo in die Hände fiel, verriet sie auch unter schlimmster Folter keinen einzigen Namen. Sie konnte fliehen und lebte bis Kriegsende in mehreren Verstecken. Bis in die Neunziger waren ihre Taten fast vergessen, da Sendler selbst nie viel Aufhebens davon machte: „Das war meine Pflicht und keine Heldentat“, sagte Irena Sendler einst dazu – sie rettete mit ihren Aktionen übrigens doppelt so vielen Juden das Leben wie Oskar Schindler.
Das Lesebuch von Davyd Rozenfeld ist als Ergänzung zum Geschichtsunterricht gedacht, und richtet sich dezidiert an Schüler, die durch die persönlichen Schicksale von Menschen in ihrem Alter einen direkteren Zugang zum Thema Nationalsozialismus bekommen sollen. Am wichtigsten sind für Rozenfeld daher der dritte und vierte Teil des Buches: Jugendliche als Retter und Helfer sowie Schilderungen über den organisierten Widerstand: „Es war mir besonders wichtig, Kinder und Jugendliche nicht nur als Ermordete und Gerettete, sondern auch als Retter und Widerstandskämpfer darzustellen.“
So kann man etwa von Nikolai Dorozhinski lesen, der im Alter von elf bis 14 Jahren mit seinem jüdischen Freund Vladimir Mogilewskij aus der Ukraine flüchtete, um der Zwangsarbeit zu entgehen: Sie gaben sich gegenseitig als Brüder aus und überlebten den Krieg als „russische“ Fremdarbeiter in Deutschland. Ähnlich machte es die achtzehnjährige Käthe Meier, die 1944 ein befreundetes jüdisches Ehepaar aus dem Sammellager Köln-Müngersdorf rettete: Die Wachen ließen sie ins Lager, damit sie „ihre Eltern“ sehen könne, wie sie vorgab. Mutig versteckte Käthe die Judensterne des Ehepaars unter Schals, und verließ mit ihnen unter den Augen der SS-Männer unbeschadet das Lager.
Der vierte Teil konzentriert sich unter anderem auf die Edelweißpiraten und die Swing-Jugend, die sich der Eingliederung in die Jugendorganisationen der NSDAP verweigerten, Flugblätter verteilten, Waffendiebstähle begangen, Rüstungsbetriebe sabotierten und Anschläge auf NS-Funktionäre unternahmen.
Das Buch zeigt auch berührende Zeugnisse von Jugendlichen aus der NS-Zeit wieder: Etwa die Gedichte von Selma Meerbaum-Eisinger, die 1942 mit 18 Jahren im deutschen Arbeitslager Michailowka starb, oder die Zeichnungen, Briefe und Tagebucheinträge von Petr Ginz, in denen er Pläne festhielt, Linolschnitte anzufertigen oder sein Englisch zu verbessern. 1944 wurde Petr mit 16 Jahren in Auschwitz ermordet.
Bereits Mitte der Neunziger begann Davyd Rozenfeld, der damals noch im ukrainischen Odessa lebte, als Interviewer und Zeitzeuge für die die von Steven Spielberg initiierte „Survivors of the Shoa“-Foundation zu arbeiten und zu recherchieren. In den letzten zehn Jahren hat Rozenfeld als Autor und Übersetzer Artikel und Bücher zum Thema veröffentlicht. 2003 zog er nach Potsdam. Hier verfasste er das Buch über Kinder und Jugendliche zur NS-Zeit.
Das von Rozenfeld mit finanzieller Unterstützung des Cornelsen-Verlag und einem Team von Übersetzern und Redakteuren zusammengestellte Buch dürfte nicht nur jugendlichen sondern auch erwachsenen Lesern eindrücklich vor Augen führen, dass Zivilcourage und der Kampf gegen Unrecht und Unmenschlichkeit keine Frage des Alters ist.
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