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Flüchtlinge in Potsdam: Leben statt Leiden
Raisa aus Tschetschenien hat schlimme Erfahrungen gemacht. Nun hat die alleinerziehende Mutter nur noch Angst, wieder fortgeschickt zu werden.
Stand:
Der Weg zwischen der Bushaltestelle und dem Flüchtlingsheim führt an einer Straße vorbei. Ein Autofahrer hupt und hält an, als der fünfjährige Junge beinahe auf die Straße läuft. „Hallo. Kannst du uns nach Hause fahren?“, fragt der Junge. „Was sagt er?“ fragt seine Mutter nach der Antwort des Fahrers. Sie versteht es noch nicht, wenn ihr Sohn Deutsch spricht.
Raisa ist der Name der 28-jährigen Frau aus Tschetschenien. Seit drei Monaten lebt sie mit ihren zwei kleinen Söhnen in einem Container in einer Potsdamer Flüchtlingsunterkunft. Ihr Zimmer ist etwa 15 Quadratmeter groß. Zwei große Betten stehen darin, ein Kleiderschrank, Ess- und Arbeitstisch. Spielzeug, Kuscheltiere und deutsche Kinderbücher liegen herum. Den weißen Container mit Küche und Bad teilen sich Raisa und die Kinder mit einer dreiköpfigen Familie aus Albanien.
Raisa sieht sehr mager aus. Die Strapazen der letzten Monate sind ihr anzusehen. Mit ihren 28 Jahren hat sie schon zwei Kriege in Tschetschenien überlebt und war zweimal verheiratet. Jetzt erzieht sie allein einen Dreijährigen und einen Fünfjährigen.
Als sie selbst noch ein Kind war, hat sie davon geträumt, irgendwohin ganz weit wegzulaufen, sagt sie. Als sie 14 Jahre alt war, durfte sie nicht mehr zur Schule gehen. In der russischen Teilrepublik im Nordkaukasus ist es nicht ungewöhnlich, dass Mädchen in diesem Alter verheiratet werden. Damals, im Jahr 2001, geschah das Gleiche mit Raisa. Ihre Mutter hatte sie einem Mann aus ihrem Bekanntenkreis versprochen. Er war 26 Jahre alt. Raisa und der Mann trafen sich zweimal, der Tradition entsprechend tauschten sie Ringe. Ihre Hochzeit feierte man in ihrem Dorf.
Zum ersten Mal sei sie nach drei Monaten vor ihrem Mann zu ihrer Mutter geflohen, erzählt Raisa. Aber ihre Mutter schickte sie zurück. „Wenn du wieder zu mir kommst oder vor deinem Mann fliehst, bist du nicht mehr meine Tochter!“, habe die Mutter gesagt, erzählt Raisa mit Tränen in den Augen. Daraufhin floh Raisa zu ihrem Vater. Seitdem spreche ihre Mutter nicht mehr mit ihr.
Vater und Mutter lebten seit Jahren getrennt, erzählt Raisa. Der Vater hatte immer viel getrunken und seine Frau geschlagen. „Meine Mutter hat sich nachts im Maisfeld versteckt, ist viele Male weggegangen“. Die Kinder habe er zwar nicht angerührt, dennoch hatten alle Kinder Angst vor ihm. Auch Raisa traute sich kaum, mit ihm zu sprechen. Doch er suchte selbst das Gespräch und fragte, warum sie nicht zu ihrem Mann zurück wolle. „Wenn du nicht mit ihm leben willst, bleib hier“, sagte der Vater. Eigentlich wollte Raisa nur ein paar Tage bei ihm bleiben. Sie blieb, bis sie 21 Jahre alt wurde. Ihre Jugend verbrachte sie fortan mit Waschen, Spülen und Putzen. Raisa kümmerte sich um die jüngeren Geschwister und die Kinder der Stiefmutter.
Dann lernte sie Sascha kennen. Er war 20 Jahre alt und kam aus Grosny, der Hauptstadt Tschetscheniens. Wieder traf man sich zweimal, Ringe wurden getauscht. Doch diesmal waren die Gefühle echt, sagt Raisa. Sascha sei ein sehr lieber Mann gewesen. So lebten sie zusammen in der Stadt. Doch ihr neuer Ehemann war krank. Seit seiner Kindheit litt er an Epilepsie. Raisa versuchte, ihn nie allein zu lassen. Doch er schlich heimlich heraus, um arbeiten zu gehen. Einmal wollte er seine Verwandten besuchen, ließ seine Frau mit ihren Kindern zu Hause und ging allein. Auf dem Weg hatte Sascha erneut einen Anfall, er fiel um und blieb die ganze Nacht im Schnee liegen. Danach hustete er einige Monate lang. Die Ärzte sagten ihm, dass er Tuberkulose habe. Sieben Monate lag er im Krankenhaus in der tschetschenischen Hauptstadt.
Sie habe ihn angefleht, erzählt Raisa: „Bitte, fliehen wir nach Europa, nach Deutschland, man hilft uns dort mit deiner Krankheit. Du darfst nicht sterben und mich und deine kleinen Kinder hier alleine lassen.“ Er war einverstanden. Doch nach diesen sieben Monaten im Krankenhaus, kurz bevor die junge Familie aufbrechen wollte, starb Sascha im Alter von 23 Jahren.
Nach den tschetschenischen Traditionen hätte Raisa als Witwe die Kinder in die Familie des gestorbenen Mannes übergeben müssen. Sie selbst sollte wieder zu Mutter oder Vater zurück. Ihre Kinder hätten dann in Grosny gelebt, sie selbst in einem Dorf, 100 Kilometer entfernt. Sie hätte ihre eigenen Kinder nicht erziehen, sich nicht um sie kümmern dürfen und nicht sehen können, wie sie aufwachsen. „Eine Frau ist in Tschetschenien nichts, erst recht nicht mit zwei Kindern. Mein Vater befahl mir, ich solle die Kinder abgeben“, sagt Raisa. Das wollte sie nicht. Stattdessen floh sie mit den Kindern nach Europa.
Von Grosny fahren regelmäßig Züge nach Moskau und von Moskau nach Brest, einer weißrussischen Stadt an der polnischen Grenze. Zwei Tage dauerte die Reise. Weiter ging es mit dem Taxi und zu Fuß. In Polen schließlich wurde sie verhaftet, sie musste ihren Reisepass abgegeben und einen Fingerabdruck hinterlassen. Damit hat sie einen Asylantrag gestellt.
Nach einem Monat in Polen wurde sie krank. Auch sie hatte Tuberkulose. „Ich bekam Medizin, aber ich wusste, dass sie mir nicht helfen würde“, sagt Raisa. Als es ihr immer schlechter ging, habe man sie gehen lassen, damit sie in Deutschland Hilfe suchen konnte. Ein Jahr habe sie in einem Berliner Krankenhaus verbracht. Drei Monate konnte sie ihre Kinder nicht sehen. „Sie weinten“, erzählt Raisa. „Aber ich wusste, dass meine Kinder in Sicherheit sind.“ Während der Krankheit hat sie abgenommen – von 55 auf 40 Kilogramm.
Den Kindern geht es heute gut. Sie sind Energiebündel. Nach dem Krankenhaus haben die Kinder nur Deutsch gesprochen. „Ich verstehe die Kinder immer noch nicht, wenn sie Deutsch sprechen“, sagt Raisa. „Jetzt, in Potsdam, gibt es einige tschetschenische Kinder und meine lernen wieder ihre Muttersprache mit ihnen.“
Am Eingang zu den Containern sitzt Raisa auf einer Treppe und erzählt, wie sie einen Tag verbringt. Auch sie möchte gerne besser deutsch sprechen, auch wenn noch nicht klar sei, ob sie bleiben kann. Raisa weiß nicht, was morgen ist, sie wartet auf einen Brief, in dem stehen wird, was mit ihr weiter passiert. Sie geht aufgelöst zum Briefkasten und ihre Hände werden nass. Sie öffnet den Briefkasten und atmet erleichtert auf, wenn er leer ist. „Ich habe so eine Angst vor einem Brief, in dem stehen könnte, dass ich nach Russland deportiert werde“, sagt sie. „Wenn sie nur wüssten, dass ich nichts habe, wohin ich gehen könnte.“
Den Tag beginnt sie um 7 Uhr, um ihren älteren Sohn in den Kindergarten zu bringen. Danach kehrt sie mit dem kleineren zurück und legt sich wieder hin und schläft bis zum Mittag. Dann essen die beiden etwas, gegen 13 Uhr gehen sie das älteste Kind abholen und einkaufen. Am Nachmittag bleiben die beiden Jungen draußen zum Spielen. Manchmal kommen Nachbarinnen aus der Unterkunft vorbei. Dann erzählen sie sich Neuigkeiten und Gerüchte aus der Unterkunft.
Alevtina Andreeva
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