Massenmord an den Schwächsten: Lindenstraße: Erinnerung an „Euthanasie“-Opfer
Es sollte geheim bleiben. Alles musste so aussehen, als seien die Menschen eines natürlichen Todes gestorben.
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Es sollte geheim bleiben. Alles musste so aussehen, als seien die Menschen eines natürlichen Todes gestorben. Zusammen mit der Sterbeurkunde erhielten die Familien der Opfer sogenannte Trostbriefe wie diesen: „Wir bedauern, Ihnen heute mitteilen zu müssen, daß Ihre Tochter Anneliese K. am 20. Februar 1941 unerwartet infolge toxischer Diphtherie verstorben ist. ...“ Den Angehörigen der Getöteten wurde eine Urne mit beliebiger Asche zugeschickt – kostenpflichtig.
An das Schicksal der Opfer des nationalsozialistischen „Euthanasie“-Programms erinnerte Gedenkstättenleiterin Uta Gerlant in einem Vortrag am Donnerstagabend in der Lindenstraße 54 – an jenem Ort, an dem ab 1934 das Potsdamer Erbgesundheitsgericht tagte. Hier wurde die Sterilisation von Menschen angeordnet, die unter den Nazis als „erbkrank“ galten und daher aus „rassehygienischen“ Gründen an der Fortpflanzung gehindert werden sollten. Man verhandle „im Minutentakt“, gab der Vorsitzende des Potsdamer Erbgesundheitsgerichts Walter Heynatz damals selbst zu Protokoll. In Gerlants Vortrag erfuhren die rund 20 Zuhörer aber leider nichts über das Geschehen in Potsdam, obwohl die Einladung das Gegenteil vermuten ließ.
Als „erbkrank“ abgestempelt wurden unter den Nazis beispielsweise Menschen, die unter Krankheiten wie Schizophrenie oder erblichem Veitstanz litten. Aber auch schwer Alkoholkranke oder Personen, die keiner geregelten Berufstätigkeit nachgingen, konnten ins Visier der Rassefanatiker geraten. Selbst Sinti und Roma, denen man pathologische Kriminalität unterstellte, gehörten Gerlant zufolge zu den Opfern. Bis zum Jahr 1939 waren mindestens 200 000 Deutsche sterilisiert worden, sagte die Historikerin.
Nachdem im September 1939 der Krieg ausgebrochen war, gab es eine neue Stufe des Rassenwahns. Das als „Euthanasie“ – griechisch für: leichter Tod – verharmloste Mordprogramm der Nationalsozialisten nahm seinen furchtbaren Lauf. Bereits im Oktober 1939 verfügte Hitler: „Reichsleiter Bouhler und Dr. med. Brandt sind unter Verantwortung beauftragt, die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, daß nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann.“ Mit diesem Schreiben habe der Diktator „den Übergang von der Verhütung sogenannten ,lebensunwerten’ Lebens zu dessen Vernichtung“ eingeleitet, erläuterte Gerlant. Die Menschen wurden vergast, erschossen oder anders umgebracht.
Der Massenmord an den Schwächsten der Gesellschaft war bürokratisch organisiert. Die zuständige Abteilung der Reichskanzlei residierte in Berlin in der Tiergartenstraße 4, weshalb das von dort geleitete staatliche Morden auch „Aktion T4“ genannt wurde. Im August 1941 beendete man die zentral organisierten Exekutionen – „wohl um Unruhe in der Bevölkerung zu vermeiden“, vermutet Gerlant. Schließlich ließen sich die Exekutionen nicht dauerhaft vor der eigenen Bevölkerung verbergen. Aber auf dezentraler Ebene ging das Töten in Anstalten, Kliniken und Heimen weiter. Gerlant verwies auf Schätzungen, nach denen allein im Deutschen Reich mehr als 216 000 Menschen ermordet wurden. Weitere Zehntausende Opfer gab es in den von Deutschen besetzten Gebieten.
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