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Von Richard Rabensaat: Magische Formel und ein dramatischer Bruch
Kontroverse Positionen und ein politischer Ausblick bei der internationalen Politologenkonferenz an der Universität Potsdam
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20 Jahre nach dem Mauerfall sei Europa auf einem guten Weg zu einem gemeinsamen Haus zusammenzuwachsen, behauptet John J. Mearsheimer. Bei der 5. Generalkonferenz der Europäischen Politologenvereinigung ECPR an der Universität Potsdam legte der Politikwissenschaftler von der Universität Chicago seine Sicht der politischen Verflechtungen der Welt dar. Möglicherweise seien die europäischen Staaten auf dem Weg die „magische Formel“ für das Zusammenleben der Völker zu finden. Vielleicht seien sie aber auch schlicht zu beschäftigt gewesen, um übereinander herzufallen. Schließlich habe es in den vergangenen Jahren genug Kriege gegeben, an denen Europäer beteiligt gewesen seien: Bosnien, Irak, Afghanistan.
John J. Mearsheimer hält sich für einen realistischen Theoretiker in seiner Fachrichtung, der Politologie. Um seinen Stand des politischen Denkens zu erreichen, müsse der Theoretiker kreativ sein, also neue Ideen erfassen und formulieren können. Weiterhin müsse der Realist gewillt sein, kontroverse Thesen aufzustellen und diese allen anderen einzuhämmern. Das könne man nicht lernen, das sei angeboren. Erworbenes Wissen könne diese Fähigkeiten allenfalls untermauern. Politische Statements Mearsheimers lauten dann so: „Ich schlafe besser, wenn ich weiß, dass mein Staat Nuklearwaffen hat, um sich gegen Russland zu wehren.“ Überhaupt seien Atomwaffen gar nicht so schlecht, der Nuklearschirm der Nato habe immerhin Europa vor Russland geschützt. Solange zwei Staaten über Atomwaffen verfügten, wäre der Frieden garantiert.
Aus Mearsheimers Sicht haben Staaten eine natürliche Tendenz zur Hegemonie. Deshalb sei es auch gut, dass die 100 000 in Europa stationierten Soldaten es verhindert hätten, dass England, Frankreich oder Deutschland nach dem Ende des kalten Krieges Ärger verursachen konnten.
Der Amerikaner war einer von 2500 Politologen aus aller Welt, die sich in Potsdam trafen. „Die Position Mearsheimers möchte ich nicht weiter kommentieren“, formuliert Klaus H. Goetz, der Organisator der Konferenz, vorsichtig. Es sei allerdings durchaus Zweck einer wissenschaftlichen Zusammenkunft von so großem Umfang wie derjenigen in Potsdam zu polarisieren.
Dennoch waren nicht alle Beiträge um derart pointierte Positionen bemüht wie derjenige Mearheimers. Goetz, der an der Universität Potsdam eine Professur für Politik und Regieren inne hat, versuchte in seiner Betrachtung zu den bevorstehenden Bundestagswahlen eher das gegenwärtige politische System zu durchschauen und zu erläutern: „Es entsteht in Deutschland ein fluides Fünf-Parteien-System, das aber in Europa gar nicht so untypisch ist.“
Auffallend sei gegenwärtig die Fragmentierung der politischen Systeme in Europa. Lokale und zentrale politische Einheiten fielen auseinander und die politischen Ränder würden erstarken. Dies gelte insbesondere für Staaten mit einem Verhältniswahlrecht wie Belgien, die Niederlande oder die Schweiz. Durch das Auftauchen der Linken auf gesamtdeutschem Parkett sei ein „dramatischer Bruch mit den Bonner politischen Strukturen“ einhergegangen, in denen alle Parteien letztlich miteinander koalieren konnten. Goetz erwartet allerdings, dass sich die Linke auch auf Bundesebene längerfristig als koalitionsfähig erweise. Schließlich habe das Beispiel der Grünen gezeigt, wie sich deren Positionen zur Außenpolitik und Verteidigung sukzessive deutlich verändert hätten.
Auffällig findet Goetz das Fehlen einer starken Partei auf dem rechten Rand in Deutschland, wie sie in anderen europäischen Staaten existieren. Der Politikwissenschaftler erklärt dies damit, dass die Mehrheitsparteien in Deutschland Themen wie Einwanderung oder die Öffnung der Arbeitsmärkte aufgreifen würden, bevor diese von rechtspopulistischen Parteien ausgeschlachtet werden könnten. „Das Parteiensystem in Deutschland entwickelt sich positiv“, behauptet Goetz. Dies zeige sich auch am Beispiel der Gesundheitsreform. Unabhängig davon, ob diese nun gelungen sei oder nicht, werde jedenfalls deutlich, dass sich keine der einflussreichen Lobbygruppen im Gesundheitswesen habe durchsetzen können.
Richard Rabensaat
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