Landeshauptstadt: Mensch ärgere Dich nicht
Andere Sichtweisen und gute Laune gestern auf dem Begegnungsfest vorm Brandenburger Tor
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Kann man den Unterschied zwischen einer roten und einer gelben Paprika auch mit verbundenen Augen schmecken? Hartmut Erker, Behindertenbeauftragter der Stadt Potsdam, weiß: „Die rote schmeckt süßer.“ Man müsse einfach probieren, wie es denn eigentlich ist, wenn ein Sinn nicht mehr funktioniert. Dann könne man Menschen mit Behinderungen mit anderen Augen sehen, so der Mitveranstalter des gestrigen Begegnungsfestes für behinderte und nichtbehinderte Menschen.
Elona Müller, Beigeordnete für Soziales, eröffnete das Fest vor dem Brandenburger Tor am frühen Nachmittag bei strahlendem Sonnenschein: Vereine und Institutionen aus der Behindertenarbeit präsentierten sich mit Ständen und Mitmachaktionen. Das Polizeiorchester hielt die Gäste mit jazziger Musik bei Laune. Das Straßenfest sei eine gute Möglichkeit, auf die Menschen hinzuweisen, „die sonst nicht so am allgemeinen Straßenleben teilnehmen können“, sagte die Sozialbeigeordnete. Schließlich sei jeder von einer Behinderung bedroht, sei es durch Unfall oder Krankheit, ermahnte sie. Möglichkeiten, sich in den Alltag von behinderten Menschen hineinzuversetzen, gab es gestern viele: Der zehnjährige Nikita probierte das Laufen mit dem Blindenstock und schlug sich dabei ganz gut: „Ich habe mich gefühlt wie blind“, fasste er das Erlebnis zusammen. Stephanie Seidel vom Sozialwerk Potsdam erklärte ihre Blindenschriftschreibmaschine: Jeder Buchstabe setzt sich aus einer Kombination von maximal sechs Punkten zusammen. Die Maschine hat demzufolge auch nur sechs Tasten: eine für jeden Punkt. Für die verschiedenen Buchstaben müssen dann wie auf einem Klavier jeweils die richtigen Tasten gleichzeitig gedrückt werden. Das sieht kompliziert aus. Seidel sagt: „Reine Übungssache.“ Sogar „Mensch ärgere Dich nicht“ kann man blind spielen: Der Würfel hat dann kleine Nägel anstelle der Punkte.
Eitel Sonnenschein ist das Leben als Behinderter in Potsdam aber nicht immer. Eberhard Bewer vom Behindertenbeirat und selbst Rollstuhlfahrer, sagt: „Es gibt noch viel zu machen.“ Bei den Straßenbahnhaltestellen zum Beispiel. Verschiedene Einstiegshöhen machen es den Rollstuhlfahrern schwer. Michael Krüger vom Potsdamer Behindertenverband stört sich an fehlenden „Blindenstrichen“: „Das sind die dicken weißen Striche vor Treppen und Absätzen“, erklärt er. Damit könne er als Sehbehinderter leichter durch den Alltag kommen.
Das Fest generell findet er gut: „Wir machen darauf aufmerksam, dass es uns überhaupt gibt.“ Jürgen Becker, Vorsitzender des Behindertenverbandes, war auch „sehr zufrieden“. Matthias Molkentin gefiel das Fest „richtig gut“: „Viele Angebote“ auf einem Platz, „wie er zentraler nicht sein könnte“. Schade sei, dass die Bevölkerung „nicht so doll interessiert“ ist. „Aber das spiegelt die Realität wider“, so der Heilerziehungspfleger.
„Zu wenig Sonnenschirme gibt es“, kritisierte Susanne Eilert. Kein Wunder, dass bei der Hitze die Plätze vor der Bühne frei blieben. Die Rentnerin, die ihr Alter nicht verraten wollte, war mit ihrer 80-jährigen Schwester zu Fuß aus Potsdam-West gekommen: Wegen des Brandes fuhren keine Straßenbahnen. „Ein schönes Straßenfest“, resümierte die alte Dame: „Aber für sozial Schwache wird allgemein zu wenig getan.“ Den Kuchen und die Musik dagegen lobte sie.
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