
© Manfred Thomas
Landeshauptstadt: Mick Jagger durfte bleiben
Rudi Kansy brachte Tausende Potsdamer zum Singen: Am Sonntag wird der Musiklehrer und Chorleiter 90
Stand:
Das Akkordeon in der Hand und ein Lächeln auf den Lippen – so haben viele Potsdamer Rudi Kansy bis heute in Erinnerung. Sie erlebten ihn als Musiklehrer oder Chorleiter. Kansy sorgte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht nur in verschiedenen Potsdamer Kirchen für Musik – er brachte auch das Rathaus zum Singen, gründete Betriebschöre zum Beispiel bei der Volkspolizei oder dem Wohnbaukombinat, leitete den Chor der Defa-Filmstudios und brachte Musik in Krankenhäuser. „Nach dem Krieg waren in den Potsdamer Kirchen viele Orgeln beschädigt und Klaviere gab es kaum, also habe ich Akkordeon gespielt“, erinnert sich Kansy: „Heute haben die Leute mehr Interesse an Gitarren.“ Am morgigen Sonntag feiert der Musikpädagoge und Komponist seinen 90. Geburtstag.
Geboren wurde Kansy am 7. April 1923 als Sohn einer Musiker-Familie in Beuthen – dem heutigen Bytom in Polen: Sowohl seine Eltern als auch seine vier Geschwister sangen und spielten verschiedene Instrumente, schon früh vertrat Rudi Kansy seinen älteren Bruder an der Kirchenorgel. Dass er sich später vor allem als Chorleiter einen Namen machte, ist kein Wunder: Die siebenköpfige Familie Kansy bildete selbst einen Chor. „Wenn man in so einer Familie aufwächst, möchte man später, dass diese Musik überall erklingt“, sagt er.
Zum Beruf konnte Kansy die Musik trotzdem erst im zweiten Anlauf machen: Nach seinem Abitur 1942 wurde er für den Russlandfeldzug eingezogen, das geplante Musikstudium konnte er erst in der Nachkriegszeit nachholen. „Die Bomben schlugen Tag und Nacht ein“, erinnert sich Kansy an die Kriegsjahre. Nach einer schweren Verwundung gelangte er 1944 über ein Lazarett in Brandenburg an der Havel nach Potsdam. Zwei Bomben waren in solcher Nähe detoniert, das große Teile seines Trommelfells zerstört waren – für einen musikalischen Menschen eine Katastrophe. „Die hohen Töne waren weg und ich hatte ein ständiges Pfeifen auf den Ohren, aber ich konnte noch genug hören“, erzählt Kansy. „Ein Arzt sagte mir: Die Folgen des Krieges werden sie erst nach Jahren spüren.“ Deprimiert hat ihn das nicht, dafür war Kansy nicht der Typ. Auch jetzt noch, mit fast 90 Jahren, wirkt er rüstig und lebensfroh, scherzt viel und hat oft ein schalkhaftes Lächeln im Gesicht.
Vielleicht hat das Wissen, dass sein Gehör irgendwann stark nachlassen würde, Kansy in den Jahren nach dem Krieg so umtriebig gemacht: Als Potsdam noch in Trümmern lag, unterstützte er verschiedene Kirchengemeinden beim Gesang im Gottesdienst. 1949 erhielt Kansy von der DDR-Volksbildung den offiziellen Auftrag, musikalische „Kulturarbeit“ zu leisten, was er im Prinzip zuvor schon jahrelang getan hatte: In etlichen Betrieben – unter anderem in der Stadtverwaltung, dem Volkspolizeikreisamt, dem Wohnbaukombinat oder der Konsum-Bezirksverwaltung – hatte er Singgruppen aufgebaut und deren Leitung übernommen. Dabei sammelte er bereits Mitglieder für seinen eigenen Chor, aus dem 1949 der rund 90-köpfige Hans-Marchwitza-Chor wurde, mit dem Kansy unzählige Auftritte bestritt. Als Musiktherapeut veranstaltete er Singabende im Kliniksanatorium „Heinrich Heine“ in Neu Fahrland, und auch den Chor der Defa-Studios leitete er viele Jahre lang: „Wir sangen meist für den Background, zum Beispiel, wenn im Film eine Hochzeit gezeigt wurde.“ Dafür wurden dann im Film Statisten hingestellt, die nur die Lippen bewegten.
Von 1958 bis 1982 war Kansy Musiklehrer am Humboldt-Gymnasium, wo er sich nicht immer an die sozialistischen Konventionen hielt: „Wenn ein Schüler sagte, er wolle kein Kampflied singen, dann meinte ich: Gut, dann sing etwas anderes.“ Das konnte neben Volksliedern auch mal ein Beatles-Song sein, wie sich eine ehemalige Schülerin erinnert: „Wir stellten fest, dass es noch etwas anderes gab als Arbeiterkampflieder, mit denen uns unsere Musiklehrerin in Wilhelmshorst gefüttert hatte“, erzählt Gisela Mauch-Koch weiter: „Ich war glücklich!“ Die heute 69-jährige Potsdamerin tauschte damals auch rare Schallplatten mit ihrem Lehrer.
Während viele Klassenzimmer eher schmucklos waren, durften in Kansys Musikraum auch Bilder von Rockbands hängen. „Manchmal kamen Mitarbeiter der Kreisleitung vorbei, die dann überrascht meinten: Das darf hier doch gar nicht hängen!“ Aber die Poster blieben. Dem stadtweit bekannten Kansy ließen die DDR-Behörden das durchgehen. Auch ein Porträt von Mick Jagger, das der Hobby-Maler selbst gefertig hatte, durfte bleiben. Auf Bitten seiner Schüler ließ Kansy sogar metergroße Reproduktionen des Bildes anfertigen und verschenkte sie.
Rudi Kansy führte ein Leben für die Musik, doch aus gesundheitlichen Gründen musste er 1982 vorzeitig in Rente gehen: „Das war wie ein Begräbnis“, sagt er. Privat widmete er sich nun stärker seiner Aquarell-Malerei, zudem nimmt er immer noch viermal im Jahr an einem Treffen mit ehemaligen Chorgefährten teil. Häufig wird Kansy zu Jahrgangsfeiern eingeladen, mit einigen früheren Schülern hält er den Kontakt. Auch Gisela Mauch-Koch hat ihn in guter Erinnerung: „Er hat etliche von uns für Musik begeistert.“ Mit spürbaren Folgen: Mauch-Koch wurde später selbst Musiklehrerin.
- Familie
- Lehrer
- Polen
- Rente
- Schule
- Schule und Kita in Potsdam
- Werder (Havel)
- Zweiter Weltkrieg und Kriegsende
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: