Landeshauptstadt: Mit Faust und Kipa
Der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Mikhail Shvarts wird heute 75 Jahre alt
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Der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Mikhail Shvarts wird heute 75 Jahre alt Von Juliane Wedemeyer Wenn seine zwei Söhne und zwei Enkel zu Besuch kommen, lässt Mikhail Shvarts schon mal einen Termin platzen – denn sie leben in Israel. Und in dieser Woche haben sie einen wirklich wichtigen Grund, nach Potsdam zu kommen: Ihr Vater, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde der Stadt, wird heute 75 Jahre alt. Geboren wurde er 1930 in dem kleinen jiddischen Städtle Berditsche in der Ukraine. Aber schon nach einem Jahr zogen seine Eltern mit ihm und seiner Schwester nach Moskau, wo der Vater in der Textilfabrik des Großvaters arbeitete. Der kleine Mikhail wächst in einem streng religiösen Elternhaus auf, seinen Vater kennt er nur mit der Kipa, der runden Kappe, auf dem Kopf. Dass er Jude ist, wird ihm früh klar. Die Nachbarskinder hänseln ihn: „Abraham, Abraham!“ Und Mikhail ist ein gutes Opfer, er ist klein und schmächtig. So klein, dass er noch als Elfjähriger „zum Pferde füttern auf eine Kiste klettern“ muss. Mit 16 nimmt er, inzwischen größer, Boxunterricht. Als „die anderen Jungen“ ihn wieder prügeln wollen, schlägt er zurück. Drei auf einmal habe er „gekloppt“, erzählt Shvarts, seine Faust fliegt durch die Luft, trifft unsichtbare Nasen. Die Eltern der drei hätten sich hinter her bei seinen beschwert, aber seitdem haben die Jungen ihn respektiert. Weil sein Trainer der Meinung war, ihm fehle zum Profiboxer das Talent, wurde er Bleigießer. Dass die Arbeit mit dem giftigen Metall seiner Gesundheit schadete, war ihm egal, denn er „verdiente recht gut“. Erst als ein Mädchen ihm sagte, ein Bleigießer würde nie ein „guter Mann“, meldete er sich zur Abendschule an: „Ich war verliebt.“ Die Stalinära überstand er als Student am Moskauer Öl- und Gas-Institut „ganz gut“, doch viele seiner Glaubensbrüder wurden deportiert oder begingen aus Angst Selbstmord. Ein Jahr nach dem Tod Stalins 1954 machte Shvarts seinen Abschluss und ging nach Sibirien. Als Wissenschaftler entwickelte er Rohre für die Druschba-Pipeline und Geräte zur Ölgewinnung. Blickt er in seinem Potsdamer Büro auf sein Leben zurück, sei es das, worauf er stolz ist. Shvarts zieht aus seiner Schreibtischschublade eine Schachtel Lübecker Marzipan – „Wollen Se?“ – und spricht weiter. Mal russisch, mal deutsch, mal jiddisch: „Potsdam ist eine schöne Stadt, ist meine Stadt.“ Aber warum geht ein Mann wie Shvarts nach Deutschland? Einer, der als Elfjähriger ohne Eltern vor den Deutschen in den Osten Russlands fliehen musste, der während des Holocausts viele seiner Verwandten verlor. Warum ist Shvarts nicht wie seine Kinder nach Israel gezogen? Kurz vor seinem Tod 1963 habe sein Vater ihm gesagt: „In Deutschland wurden fast alle von uns getötet. Du musst die jüdische Tradition wieder aufbauen!“ 1999 kam Shvarts mit seiner Frau Nina hierher. Seit 2002 ist er Vorsitzender der Gemeinde. Kaum beginnt er über sein Amt zu sprechen, holt er aus der Jacketttasche seine Kipa hervor. Immer, wenn es offiziell wird, trägt er sie und „natürlich in der Synagoge“, hoffentlich bald in der neuen. Das sei sein großer Traum, der sich erfüllen soll.
Juliane Wedemeyer
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