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Landeshauptstadt: Mit Latex-Schwert auf Zombie-Jagd

Zwölf Potsdamer organisieren seit zwei Jahren das Live-Rollenspiel „Rachaelistan“: Die Idee für diese Art dynamischen Fantasy-Theaters ohne Publikum kommt ursprünglich aus England und findet auch in Deutschland immer mehr Anh

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Zwölf Potsdamer organisieren seit zwei Jahren das Live-Rollenspiel „Rachaelistan“: Die Idee für diese Art dynamischen Fantasy-Theaters ohne Publikum kommt ursprünglich aus England und findet auch in Deutschland immer mehr Anhänger jeden Alters und aus allen Berufen Bitterkalte Nacht, Sternenhimmel, eine ausgedehnte Waldlichtung. Dahinter erhebt sich ein dunkler Turm, auf dem Platz vor ihm steht eine angestrahlte hohe Buche im Nebel. Zwölf sinistre Gestalten schwanken gemächlich durch die Szenerie, röhren: „Uaaah!“ Dabei schwenken sie bedächtig ihre Schwerter, Äxte und Schilde. Plötzlich bleiben die Kreaturen stehen, wittern. Schritte. Ein gemischter Trupp aus etwa 30 Magiern, Kriegern und Jägern betritt vorsichtig das Gelände. Das Dutzend dunkler Gestalten schlurft auf sie zu. Einer aus der frisch eingetroffenen Gruppe schreit: „Zombies!“ Ein Kampf entbrennt. Die scheinbare Übermacht hat es gegen die Monster unerwartet schwer: Ist eine der Bestien zur Strecke gebracht, steht sie nach einer halben Minute unter gewaltigem Fauchen wieder auf: „Wooaah!“ Alles nur ein Spiel. An diesem Wochenende haben sich 50 bis 60 Leute aus ganz Deutschland in der Jugendherberge von Bad Freienwalde, 50 Kilometer östlich von Berlin getroffen. Sie alle wollen bei einem so genannten LARP dabei sein, also einem Live-Rollenspiel. Dieses hier heißt „Rachaelistan“, die Veranstalter stammen aus Potsdam. Die Grundidee zu solchen LARPs kommt eigentlich aus England. Das Prinzip lässt sich als eine Art Theater in Echtzeit, ohne Zuschauer und mit einer sich dynamisch entwickelnden Handlung beschreiben: Eine multikulturelle Gruppe von Spielern mit unterschiedlichen Fähigkeiten streift ganz real durch erdachte Lande und erlebt Abenteuer. Jeder Teilnehmer kann dadurch den Alltag eines Zwergs, Gauklers oder Druiden erleben und spielt eine völlig andere Rolle als in der normalen Welt. Wie die Story weitergeht, das bestimmen die Aktionen der Rollenspieler. Anstöße und Gründe zu ihrem Handeln erhalten die Abenteurer von so genannten Nichtspielercharakteren (NSC); und von Plot-Organisatoren wie Silvio Hecklau. Der langhaarige Student aus Potsdam steht bei der Schlacht im Hintergrund am Turm. Er hat vorher zusammen mit einem Helfer die Beleuchtung aufgebaut, die über einen hörbaren, aber versteckten Benzingenerator betrieben wird. Dazu hat Hecklau noch eine Nebelanlage installiert, aus der nun Schwaden über den Platz ziehen. „Die Zombies sind allesamt NSCs und bekommen vorher genaue Anweisungen“, erklärt Plot-Organisator Silvio Hecklau. Die Untoten dürfen sich demnach nur langsam bewegen, wer von ihnen sechsmal von gegnerischen Waffen getroffen wird, geht theatralisch zu Boden. „Dann zählt jeder bis 15 und steht wieder auf“, hat Hecklau dem Zombietrupp mit auf den Weg gegeben. Er ergänzt: „Solche organisierten Story-Elemente sind typische Aufgaben für NSCs oder Plot-Orgas.“ Boto, der Herr von Rachaelistan Vier Stunden vor der Schlacht steht der riesig wirkende Michael ,Boto'' Grzegorkiewicz in der Küche der Freiwalder Jugendherberge und kocht für die gesamte Mannschaft Gulasch und Gemüseeintopf in riesigen Töpfen. Boto gehört zur so genannten Spielleitung (SL) des LARP, also zu den zwölf Machern aus Potsdam. Sie haben sich schon Monate vorher auf die drei Tage in Bad Freienwalde vorbereitet. „Jugendherberge mieten, Essen kaufen, Eintrittspreise kalkulieren, vor Ort schon Schauplätze wie das Lazarett dekorieren“, beschreibt Boto die Aufgaben. Das Wichtigste für ein Live-Rollenspiel bleibt aber eine spannende Hintergrundgeschichte, die sich die SL ausdenken muss. Das Reich, das sich Boto und seine Mitstreiter vor etwas zwei Jahren ersponnen haben, heißt wie das LARP: Rachaelistan. „Es ist ein sehr raues Land mit sibirischem Klima“, erklärt Boto das Hintergrundkonzept. „Die Gegend ist durchzogen von Steppen, Wüsten und Kratern“. In Rachaelistan regiert der feudale Herrscher Lord Rachael. „Unsere Geschichten spielen in einer der Grenzgarnisonen des Reiches“, sagt Boto. Es ist inzwischen der dritte Con, in der Rollenspielsprache soviel wie Veranstaltung, den Boto und seine Helfer nun zu der Geschichte organisieren. Beim ersten Mal zogen mehrere Helden kurz nach Silvester für drei Tage durch den Oderbruch, als Schiffbrüchige in einer neuen Welt namens Rachaelistan, und suchten einen Piratenschatz. Auf dem zweiten Con reiste die Heldentruppe 5000 Jahre in die Vergangenheit zurück, kurz vor dem Aufschlag eines riesigen Meteors. Boto erzählt: „Dieses Mal geht es um die Verteidigung der Garnison vor verseuchten Mutanten und einer geheimnisvollen Macht, die hinter diesen Kreaturen steht.“ Fairness ist wichtig Zu den Ideen Botos und der restlichen Crew gehört auch der Zombie-Überfall nachts vorm Bismarckturm bei Bad Freienwalde. Die Helden hatten vorher von einem Zauberer den Hinweis bekommen, in dem Gemäuer nach einem magischen Stab zu suchen. Der Waldweg von der Jugendherberge zum Turm dauert für die Spieler zu Fuß eine Stunde, zum Teil stecken sie in schweren Kettenhemden und Plattenrüstungen. Und plötzlich sind diese Wachzombies da, befehligt von einer Zauberin, die hinter der Brüstung des seitlichen Turmflügels steht. Schwerter krachen gegeneinander. „Damit alles klar und realistisch läuft, müssen Spieler wie NSCs fair miteinander umgehen“, sagt Boto und nennt ein Beispiel: „Wenn ein Spieler mehrere Schwerttreffer auf seine nicht geschützte Hand oder sein Bein bekommt, dann sind die Körperteile eben ab, bekommt er noch mehr Hiebe, stirbt der Charakter.“ Natürlich nicht in echt, die Spieler müssen aber zum Beispiel den Verlust ihrer Gliedmaßen möglichst realistisch darstellen. Die benutzten Waffen bei LARPS sind dagegen fast ungefährlich. Es sind nur so genannte Latex-Waffen erlaubt. Diese bestehen aus einem Kernstab aus Glasfaser, um den herum eine Schaumstoff-Schablone geklebt wird. Solch eine Grundwaffe muss noch mit Latexfarbe aufwendig bemalt werden – fertig ist das Latex-Schwert, der Latex-Knüppel oder die Latex-Lanze. Als Rüstung tragen die Rollenspieler dagegen „echte“ Kettenhemden, Lederwamse oder Zauberumhänge. Blaue Flecken sind einkalkuliert. Die Helden in der Klemme? Inzwischen ist es Mitternacht. Die Helden sind an den Zombies vorbei in den Turm gekommen und haben den gesuchten Magiestab gefunden. Nun müssen sie wieder rauskommen. Doch die Zombies lauern noch draußen, keiner der Helden will voran schreiten. „Viele Spieler haben mit ihrem Charakter eine intensive Beziehung aufgebaut, viele Erfahrungspunkte gesammelt und passen deswegen natürlich auf, nicht im Spiel zu sterben“, erklärt Silvio Hecklau die Vorsicht. Die Rollenspieler sind im wirklichen Leben ganz normale Menschen jeden Alters, sie stammen aus allen sozialen Schichten. In Bad Freienwalde sind Handwerker genauso dabei wie ein Journalist der Bild-Zeitung, alle für drei Tage unkenntlich und fernab ihres Alltags. „Ich kenne Leute, die sich ihren Jahresurlaub nach Rollenspiel-Einsätzen einteilen und deswegen zwanzig bis dreißig Mal quer durch Deutschland fahren“, sagt Hecklau. Die Gemeinde wächst, die Spieler teilen die Faszination fürs Mittelalter und Fantasy-Geschichten wie Tolkiens „Herr der Ringe“-Saga. Boto: „Es gibt Cons wie das Drachentreffen in Köln, wo mehr als 3000 Rollenspieler zu einer großen Schlacht zusammen kommen.“ Ihr Hobby lassen sich die LARP-Fans einiges kosten, sowohl an Zeit als auch an Geld. „Ich brauche rund zehn Stunden für den Bau eines Schwerts“, nennt Boto die Alternative zur Katalogbestellung. Bei Live-Rollenspiel-Ausrüstern kostet ein großes Latex-Schwert zwischen 50 und 150 Euro. Ähnlich teuer sind Kettenhemden oder Rüstungen. Auch der Eintritt für ein Con will bezahlt sein, Rachaelistan ist noch eines der preiswerteren LARPs: Für die drei Tage bezahlen die Spieler hier im Vorverkauf 65 Euro, die NSCs 35 Euro und bekommen dafür Vollverpflegung und ein Dach über den Kopf für die Nacht – oder den Tag. Denn in der Dunkelheit wird bevorzugt gespielt. Zombies tot, Mutanten lebendig Gegen ein Uhr nachts brechen die Helden doch noch durch den Ring Wachzombies. Ein beleibter Mönch verliert jedoch alle seine Lebenspunkte, laut den Regeln muss er nun liegen bleiben. Die Zombies machen sich über ihn her, nagen ihn an, lassen ihn schließlich liegen. Ein Magier namens Pan erbarmt sich, belegt sich und den Unglücklichen mit einem Unsichtbarkeitsspruch und schafft ihn aus der Schusslinie. Noch einmal Glück gehabt. Eine halbe Stunde später ist das Feld vor dem Turm leer. Die Helden sind zu Fuß in Richtung Jugendherberge unterwegs. Die Nichtspieler-Zombies fahren dagegen in vollster Montur in einem Auto und einem Transporter zurück. Einer scherzt: „Wenn jetzt die Polizei käme ...“ In der Jugendherberge angekommen, müssen sich die NSC-Leute sofort wieder umziehen, ein letzter Nacht-Einsatz steht an: Sie sollen als Mutanten die örtliche Taverne überfallen. An den Seiten des 30 Quadratmeter großen Umkleideraums stehen Tische mit Accessoires: Masken, Rüstungen, Umhänge, Felle. Boto grinst: „Hier fühle ich mich wieder wie ein richtiger Mensch.“

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