
© Manfred Thomas
Landeshauptstadt: Nicht nur für Bedürftige
300 Potsdamer tafelten und unterhielten sich vor dem Brandenburger Tor – ein Kunstprojekt
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Spaghetti für alle! Pünktlich um zwölf Uhr mittags wurden am Freitag auf dem Platz vor dem Brandenburger Tor die Kochtöpfe geöffnet, denn rund 300 hungrige Besucher hatten an der im Quadrat aufgestellten „Langen Tafel“ Platz genommen, die vom gleichnamigen Verein aus Berlin organisiert wurde.
Dass es sich hierbei um eine Kunstaktion handelt, kommt nicht sofort bei jedem an: „Ist das hier nur für Bedürftige?“, fragt eine Passantin, die das Ganze mit der Potsdamer Tafel verwechselt. Nein, ausnahmslos jeder darf mitmachen und mitessen, denn die Idee der Langen Tafel besteht darin, in einer großen öffentlichen Stadtinszenierung Jung und Alt ins Gespräch zu bringen. Organisatorin Isabella Mamatis veranstaltet seit 2006 Lange Tafeln in Berlin und brachte die Aktion nun erstmals nach Potsdam.
Das große Essen bildete den Abschluss des Festivals der Generationen und Kulturen, das vom Humanistischen Verband Berlin-Brandenburg und dem Verein Lange Tafel organisiert wurde. Seit September hatten 120 Potsdamer Schülerinnen und Schüler dafür ihre Großeltern, Verwandten und Nachbarn als Zeitzeugen zum Thema „Werte im Wandel der Zeiten“ interviewt, um nach dem Konzept der „Oral History“ – mündlicher Geschichtsschreibung – Geschichten und Erinnerungen aus der Vergangenheit festzuhalten.
Eingeflossen sind diese Geschichten in eine Chronik, die am Freitag der Kulturbeigeordneten Iris Jana Magdowski (CDU) überreicht wurde und die künftig im Potsdam-Museum aufbewahrt wird. „Der familiäre Zusammenhalt stand damals an erster Stelle, die älteren Geschwister waren für die jüngeren Geschwister verantwortlich“, antwortete etwa die 63-jährige Nachbarin der 13-jährigen Desiree auf deren Frage nach dem damaligen Zusammenleben. „Sie war sehr überrascht, aber auch erfreut über mein Interesse und die ihr gestellten Fragen“, schreibt Desiree.
Rund um die Tafel sind die Geschichten an einer Wäscheleine aufgehängt, immer wieder bleiben Passanten stehen, um sie zu lesen. Währenddessen geht das Projekt an der Tafel weiter: Jugendliche stellen den Älteren Fragen wie „Wie wurden Sie damals erzogen?“ oder „Wie gingen Sie in der Familie miteinander um?“
„Ich finde es toll, dass die Jüngeren hinterfragen, wie es früher war“, sagt der 61-jährige Potsdamer Fritz Hofmann. Auch Dorothea Link ist begeistert, dass die Erinnerungen der früheren Generation aufgeschrieben werden: „Ich selbst habe keine Kinder und meine Familiengeschichte würde sozusagen mit mir sterben“, sagt die 64-jährige Potsdamerin.
Ob die Lange Tafel nun Kunst ist oder nicht, muss jeder für sich selbst entscheiden. Fakt ist jedoch, dass die Stimmung – unterstützt durch mehrere Musiker – hervorragend ist und sich viele angeregte Gespräche zwischen Jugendlichen und Senioren entspinnen.
Wer durch die Chronik blättert, stößt häufig auf Interviews mit weiblichen Zeitzeugen. Viele der gesammelten Geschichten behandeln das Leben während des Krieges, aber auch Erinnerungen an Schule und Freizeit. Einige Aussagen der Interviewten berühren, etwa Erinnerungen an Prügelstrafen in der Schule oder die Antwort einer älteren Dame auf die Frage ihrer Schwiegertochter, worüber sie sich zu Weihnachten damals am meisten gefreut habe: „Über eine extra Stulle!“ Da schmecken auch die Spaghetti plötzlich ganz anders. Erik Wenk
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