
© Andreas Klaer
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Der Auschwitz-Überlebende Noah Klieger erzählte an der Universität, wie er dem Grauen entkam
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Noah Klieger hat eine Mission. Wache Augen und ein fröhlicher Ausdruck im Gesicht – so steht der 86-Jährige am Mittwochabend mit Handy am Ohr vor dem Hörsaal im Haus 9 der Universität Potsdam. Der Saal ist rappelvoll. Vor allem Studierende der Germanistik und der Jüdischen Studien sind zur angekündigten Lesung gekommen. „Zwölf Brötchen zum Frühstück“ heißt das Buch, in dem Klieger in kurzen Episoden seine Zeit im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz beschreibt. Anstatt vorzulesen, schildert Klieger seine Erlebnisse ohne einen einzigen Blick auf sein Manuskript – so wie er es bereits unzählige Male an Schulen und Universitäten getan hat.
Scheinbar ohne Bitterkeit beschreibt Klieger Einzelheiten seiner schrecklichen Erlebnisse. Mit humorvollen Bemerkungen gelingt es ihm sogar, seine Zuhörer zum Schmunzeln zu bringen. „Niemand kann diese Zeit und diesen Hass wirklich erklären“, sagt Klieger mehrfach. Bis heute kann er die Grausamkeit der Menschen nicht fassen, die er zwei Jahre lang in Auschwitz – „das größte Grab in der Geschichte der Menschheit“ – und ein halbes Jahr im KZ Dora-Mittelbau im Harz aushalten musste.
Klieger, 1926 in Straßburg geboren, zog mit seiner Familie 1938 nach Belgien und engagierte sich in einer jüdischen Untergrundbewegung bis er von der Gestapo entdeckt wurde. 1942 wurde er nach Auschwitz in Polen deportiert. Klieger gehört zu den wenigen Überlebenden des größten deutschen Vernichtungslagers der Nationalsozialisten. 1,4 Millionen Menschen wurde dort entweder gleich nach Ankunft ermordet oder durch Zwangsarbeit, Hunger, Krankheiten und „medizinische“ Versuche eines Josef Mengele zugrunde gerichtet. Anfang 1945 gehörte Klieger zu den wenigen Überlebenden des sogenannten Todesmarsches nach Deutschland.
„Kein Jude kam nach Auschwitz, um dort zu überleben“, sagt Klieger. Dass es ihm dennoch gelang, habe er seinem starken Willen, großem Glück, und einer guten Portion Frechheit zum richtigen Zeitpunkt zu verdanken. So wurde er nach seiner Ankunft von einem jungen SS-Wachmann daran gehindert, auf einen der Lkws zu klettern, deren Passagiere zur sofortigen Vernichtung gebracht wurden. Als ein sportliebender Kommandant nach Profi-Boxern Ausschau hielt, meldete er sich sofort, obwohl er noch nie zuvor geboxt hatte. Die ihm daraufhin zugestandene Extraportion Suppe habe ihm über Monate geholfen, am Leben zu bleiben. Die echten Boxer retteten ihn, indem sie ihn absichtlich nur leicht k.o. schlugen.
Noah Klieger, bekennender Zionist, nahm 1948 am Unabhängigkeitskampf in Israel teil und schreibt seit mehr als 50 Jahren für die israelische Zeitung „Yedioth Achronoth“. Als Berichterstatter nahm er an vielen Kriegsverbrecherprozessen teil. „Wenn du überlebst, wirst du sprechen“, habe er sich immer gesagt. Unermüdlich setzt er sich heute gegen das Vergessen und Verleugnen ein. „Als einer der ganz wenigen Überlebenden ist es meine Pflicht, der Nachwelt Zeugnis abzulegen.“
„Niemand, der damals in Deutschland gelebt hat und erwachsen war, ist frei von Schuld“, so Klieger. Er spricht deshalb nicht von „den Nationalsozialisten“. Das würde suggerieren, sie seien plötzlich aufgetaucht und danach wieder verschwunden. „Wenn ich noch lebe, leben auch noch einige von den Mördern.“ Dass die deutschen Widerstandskämpfer namentlich bekannt seien, zeige doch, wie wenige es waren. Klieger war seit Kriegsende 147-mal in Auschwitz. Als Zeitzeuge begleitet er regelmäßig Delegationen dorthin. „Das erste Mal war es ganz komisch – ich konnte wieder raus“, erinnert er sich.
Anders als vielen seiner Leidensgefährten gelang es Klieger, über die Geschehnisse zu reden. „Ich bin ein optimistischer und lebenslustiger Mensch“, sagt er über sich selbst. „Das Erzählen ist schwer, denn die Sprache reicht oft nicht aus, um das Grauen zu schildern.“ Eine Ahnung davon vermittelt der letzte Satz seines Buches: „Vor mehr als einem halben Jahrhundert haben wir Auschwitz verlassen. Aber wir sind nicht befreit worden. Von Auschwitz wird uns nur der Tod befreien.“
Noah Klieger: „Zwölf Brötchen zum Frühstück: Reportagen aus Auschwitz“, wjs Verlag 2010.
Maren Herbst
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