Homepage: Ohne Ruder über den arktischen Ozean
Jürgen Graeser vom Alfred-Wegener-Institut lässt sich treiben und verfolgt doch ein Ziel
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Gestern stach die „Akademik Fedorov“ in See. Vom sibirischen Tiksi aus brach das russische Forschungsschiff ins Nordpolarmeer auf. An Bord ein ganzes Dorf, verpackt in Containern: Fertigteile für Holzhäuser, ein Generator, Küche und Krankenstation, Laboratorien, Messtechnik, warme Kleidung und Überlebensmittel für ein Jahr, für 25 Mann. Unter ihnen auch ein Potsdamer. Der Techniker Jürgen Graeser von der hiesigen Forschungsstelle des Alfred-Wegener-Instituts für Polar- und Meeresforschung ist der erste Deutsche, der auf einer russischen Driftstation im Arktischen Ozean überwintern wird. Gemeinsam mit Wissenschaftlern aus Russland lässt er sich auf einer Eisscholle über den Nordpol treiben, um Messungen durchzuführen, die Aufschluss über die aktuellen Klimaveränderungen geben sollen.
Die Arktis, Schlüsselregion des globalen Klimawandels, weist im Datennetz atmosphärischer Messungen große Lücken auf. „Im Winter, wenn es permanent dunkel ist, kann man hier über Satellit nichts ausrichten“, erklärt Graeser. Deshalb wird er jetzt mit aufsteigenden Ballon-Sonden vom eisigen „Boden“ aus messen. Neben Temperatur, Feuchte und Luftdruck interessieren die Atmosphärenforscher in Potsdam vor allem Daten von Spurengasen wie Kohlendioxid und Ozon.
Bis zur Übermittlung erster Messergebnisse von der Driftstation müssen sie sich aber noch gedulden. Zwei Wochen dauert Graesers Anreise mit dem Schiff. Die letzte Strecke wird ein Eisbrecher freischaufeln. Im Bereich der Wrangel-Insel liegt die per Satellit ausgesuchte Eisscholle. Sie ist zwei bis drei Meter dick und misst im Durchmesser zwei Kilometer. Platz genug für die kleine Forschersiedlung, die mit Hilfe der Schiffsbesatzung binnen eines Tages aufgebaut werden soll. Jürgen Graeser wird sich hier, so gut es geht, häuslich einrichten. Der 49-Jährige hat schon oft in Polargebieten überwintert, kennt die Enge auf Forschungsschiffen und Stationen, ist vertraut mit Kälte und Einsamkeit, mit weißen Nächten und stockdunklen Tagen. Auf all das hat er sich eingestellt, über die Jahre ein dickes Fell zugelegt. „Da bin ich nicht so empfindlich“, lacht er und ist doch etwas aufgeregt.
Neu für Jürgen Graeser ist diesmal die Umgebung, die Art der Fortbewegung. Eine Reise ohne festgelegten Kurs. „Wir hoffen, dass die Scholle quer über den Nordpol driftet und sich nicht im Kreis bewegt.“ Das Risiko, von der voraussichtlichen Route abzukommen, muss die Expedition eingehen, wenn sie die Antriebskräfte der Natur nutzen will. „Mit dem Schiff wäre die Überwinterung unmöglich gewesen. 200 Tonnen Diesel pro Tag“, rechnet Gräser den Kraftstoffverbrauch hoch. Kosten, die niemand tragen kann. Die Scholle hingegen „fährt“ umsonst und klimaverträglich dazu. Nur ist sie auch so stabil wie ein Schiff?
„Wir bauen alle Gebäude auf Kufen. Entdecken wir in der Scholle einen Riss, können wir die Häuser ein Stück weiter schieben“, erklärt Gräser die Sicherheitsvorkehrungen. Gefährlich allerdings wird es, wenn das Eis bricht und, wie im Jahr 2004 geschehen, ausgerechnet das Generatorhaus zuerst versinkt. Bei Temperaturen bis minus 40 Grad wird es schnell ungemütlich. Im Fall solch größerer Katastrophen ist in 24 Stunden Hilfe zu erwarten und die Driftstation wird aus der Luft evakuiert.
Szenarien wie diese scheinen Jürgen Graeser wenig zu ängstigen. Er hofft auf gutes Wetter für seine Ballonmessungen. Möglichst bald will er seinen Arbeitsrhythmus und unter den russischen Kollegen einige Freunde finden. Es gibt wenig Zerstreuung auf einer Eisscholle und neben der Arbeit außer der Eisbärenwache und kleinen Küchendiensten wenige Pflichten. Zudem ist der Bewegungsspielraum begrenzt. Spaziergänge werden sich immer nur im Kreis drehen. Dennoch glaubt Jürgen Graeser nicht, dass Langeweile aufkommt. Über Telefon und E-Mail ist er mit der Heimat verbunden. Er wird fotografieren und Tagebuch schreiben, für sich selbst und im Internet. Dem RBB hat er versprochen, einen Film mitzubringen. Und auch die deutschen Zeitungen wollen auf dem Laufenden gehalten werden. „An dieser Expedition teilzunehmen, ist für Deutschland etwas Besonderes. Das muss gut dokumentiert werden“, weiß Graeser und will vom Forscherdasein der driftenden „Schollen-Gemeinde“ in einem Buch erzählen.
Seine Rückkehr ist für den April geplant. Ein Forschungsflugzeug des AWI soll auf dem Eis landen und den deutschen Techniker nach Hause bringen. „Wenn die Scholle im Frühjahr dort ankommt, wo wir es vermuten, könnte ich auf dem Rückflug noch bei den Potsdamer Kollegen auf Spitzbergen vorbeischauen“, überlegt der Eisweltenbummler. Immerhin hätte er in der dortigen Forschungsstation schon mal festen Boden unter den Füßen.
Antje Horn-Conrad
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