Landeshauptstadt: Osten - Westen - Norden
Ein Jahr vor dem Mauerfall durften zwei HFF-Studenten und ihr Rektor nach Hamburg reisen. Von Bernd Sahling
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Die Filmuniversität Potsdam wird in diesem Jahr 60 Jahre alt. Als Hochschule für Film und Fernsehen HFF hat sie Jahrzehnte des Filmschaffens in Babelsberg mitgeprägt. Ehemalige Studierende erinnern sich nun in den PNN an ihre Studienzeit.
Als 1987 der neue Rektor Lothar Bisky kam, waren ihm zwei Dinge wichtig. Die Studenten sollten Filmgeschichten erzählen, die sie tatsächlich interessierten und dabei ihre eigene Handschrift finden. Und sie müssten die Welt kennenlernen. Den Osten ebenso wie den Westen. Das mit dem Osten ging schnell. Wir fuhren für einige Wochen nach Moskau ans WGIK (Gerassimov-Institut für Kinematographie – Anm.d.Red.). Eine schwere Melancholie lag über der Perestroika-Stadt. Die Studenten zeigten uns Filme über das Sterben, die sie an uralten Schneidetischen mühsam zusammengeklebt hatten. Das berühmte Wodkatrinken fiel aus, weil der Schnaps aus den Läden verschwunden war. Nur wir, die Studenten aus dem Westen, konnten Sowjetskoje Schampanskoje kaufen, den wir mit den neuen Freunden brüderlich teilten. Ich hatte das Gefühl, dass den Russen mit dem Wodka ein Teil ihrer Identität abhanden gekommen war. Alle warteten auf etwas. Wenige erwarteten Gutes.
Das mit dem Westen ging schneller als gedacht. 1988 lud Dieter Kosslick den Studentenfilm „Bumerang“ zum Filmfestival nach Hamburg ein und neben Rektor Bisky auch den Kamerastudenten Olaf Skrzipczyk und mich. Zu dieser Zeit hatten wir schon westdeutsche Studenten an unserer Schule zu Gast. Aber ein DDR-Filmstudent war seit dem Mauerbau wohl selten zu einem Festival in die BRD gereist. So standen wir etwas ungläubig am Tränenpalast in der Friedrichstraße und warteten auf Bisky. Er kam mit seiner Mitarbeiterin und ohne meinen Pass. Mein Freund Olaf wollte aus Solidarität auf die vermutlich einzige Westreise seines Lebens verzichten, was ich ihm ausreden konnte. Der Rektor wollte in Hamburg vor die Presse treten.
Ich wurde im Trabi von der Hochschulmitarbeiterin bis vor meine Potsdamer Haustür chauffiert. Da war es wieder, das Gefühl, wenn einige Kinder auf dem Schulhof Wrigley’s kauten, während auf meiner Zunge der Ostkaugummi zerfiel. Zum Glück hatten wir keine Perestroika und es stand eine Flasche Korn im Kühlschrank. Bevor ich mich betrinken konnte, klingelte es und Biskys Assistentin flitzte in Ermangelung eines Telefons aufgeregt die Treppen hoch: Ich solle sofort ins Kulturministerium kommen! Dort bekäme ich meinen Pass und ein Zugticket, weil das Flugzeug schon weg sei.
Im strömenden Regen fand ich den Eingang in dem großen Gebäude in Berlin-Mitte und stand wie ein begossener Pudel vor dem Schreibtisch einer Sachbearbeiterin. „Reisepass... Zugticket... den Sicherheitsbetrag haben Sie ja!“ Dummerweise fragte ich: „Welchen Sicherheitsbetrag?“ Jeder DDR-Reisende bekam einen Fünf-DM-Sicherheitsbetrag, falls der Klassenfeind zuschlug und die Botschaft angerufen werden musste. Meine fünf Westmark waren schon nach Hamburg geflogen. „Dann darf ich Ihren Pass nicht aushändigen“, war die nüchterne Feststellung der Dame hinter dem Schreibtisch. Mein Aufstöhnen muss herzerweichend gewesen sein. Nach kurzer Bedenkpause gestand mir die Frau, dass sie fünf DM einer Westreise noch nicht zurückgebucht hätte. Und wenn ich ihr versprechen würde, dass ich diese sofort nach meiner Rückkehr bei ihr abgebe, dann würde sie, ausnahmsweise...
Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ein Zug die lange Strecke durch DDR-Land fuhr, ohne einen einzigen ungeplanten Zwischenstopp einzulegen. Schon stand ich mutterseelenallein vor einem Kiosk voller bunter Hochglanzzeitschriften auf dem Hamburger Hauptbahnhof. Im Westen! Eigentlich im Norden.
Ich wollte meinen Sicherheitsbetrag nicht gefährden und lief den Weg zum Hotel. Mein Zimmer war schon vergeben. Die einzige Möglichkeit wäre ein zusätzliches Bett. Das ginge aber nur, wenn der Hotelgast zustimmt. „Macht der Herr Skrzipczyk bestimmt“, bettelte ich. Ich war plötzlich unendlich müde. Nachdem ich Geburtsdatum und Wohnort wusste und den unaussprechlichen Namen meines Freundes buchstabieren konnte, bekam ich den Zimmerschlüssel und ein zweites Bett. Mitten in der Nacht wurde ich von einem Schlag auf die Bettdecke geweckt. Der kam von Bisky, der außer sich war vor Freude.
Ich hatte geglaubt, das andere Deutschland halbwegs zu kennen. Nicht unbedingt durch Schnitzlers „Schwarzen Kanal“, aber sicher doch durchs Westfernsehen. Was für ein Irrtum. Ein schweres Parfüm lag in der Luft, wedelte Damen hinterher und mischte sich mit dem ungewohnt süßlichen Benzingeruch der Viertakt-Limousinen. Es roch nach Fisch und See. Wir schmeckten unbekannte Früchte, erstmals Shrimps, Garnelen. Die Festivalmitarbeiter waren sich des Testlaufs „Ossis in Hamburg“ bewusst und lasen uns jeden Wunsch von den Lippen ab. Olaf wollte gern das Musical „Cats“ sehen. Sie schenkten uns Karten für die dritte Reihe.
Viele Festivalfilme haben wir nicht besucht. Wir wollten das Leben sehen. Der Rektor, selbst im Norden aufgewachsen, führte uns auf die Reeperbahn. Wir, die wir am Morgen heimlich Brötchen in Servietten packten, um von den Spesen ein Diktiergerät oder das „Weiße Album“ der Beatles kaufen zu können, fanden uns am späten Nachmittag als einzige Gäste in einer Bar wieder, wo auf der Bühne zwei Damen lustlos ihre Brüste schwenkten und ein Bier zehn Mark kostete. Als mich auf der Straße eine Frau mit Regenschirm ansprach, ob ich etwas Zeit hätte und ich sprachlos stehen blieb, weil sie so gar nicht meiner Vorstellung einer Prostituierten entsprach, ging der Schulleiter diskret weiter, um kurz danach zu flüstern: „Kannst ja später allein hingehen.“
Die Läden waren voller Erfindungen. Kleine silberne Scheiben, auf die eine ganze Schallplatte passen sollte. Minilinsen wurden auf offener Straße angepriesen. Sie sollten direkt auf die Pupillen gelegt werden, um die Brille zu ersetzen.
Die Stadt glänzte. Stahl, Glas, Schaufenster, bunte Werbung. Plastetüten und Kunststoffsektgläser, die einfach weggeworfen wurden. Der sterbende und faulende Kapitalismus. Was hatten sie uns bloß erzählt über das Proletariat, das sich von den Ketten befreit. Wie süß musste Ausbeutung sein, wenn sich Angestellte dabei so viel kaufen konnten. Erst als die Marktwirtschaft den Osten eroberte, durfte ich erleben, dass Ausbeutung immer noch Ausbeutung ist und die Folgen katastrophal sein können.
Ein kurzer Flug, der erste in meinem Leben. „Es gibt nichts Schöneres als Wolken von oben“, sagte Bisky. Da stand ich vor meiner Neubauplatte und schaute auf kleine Autos in gleicher Bauform vor grauen Betonwänden ohne Werbung. Ich war zu Hause.
Ein dringender Anruf im Sekretariat der Schule. Das Kulturministerium. Mit dem gut gehüteten Fünfmarkstück in der Tasche und einem Blumenstrauß in der Hand fuhr ich den langen Weg um die Berliner Mauer nach Mitte.
Bernd Sahling studierte von 1986 bis 1991 an der HFF, nach der Wende auch in den USA. Nach TV-Dokumentationen gab er 2004 mit „Die Blindgänger“ sein hoch gelobtes Spielfilmdebüt. Dafür erhielt er 2004 den Deutschen Filmpreis.
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