zum Hauptinhalt

Landeshauptstadt: Rassenwahn verwehrte ihnen den Kinderwunsch Wie das NS-Erbgesundheitsgericht arbeitete

Sie treibe sich mit jungen Männern herum, sei zügellos in ihrem Verhalten und sammle unerlaubt Geld für den Bund Deutscher Mädel. Dies reichte dem Potsdamer Erbgesundheitsgericht 1935 aus, um die Diagnose eines „angeborenen Schwachsinns“ zu stützen.

Stand:

Sie treibe sich mit jungen Männern herum, sei zügellos in ihrem Verhalten und sammle unerlaubt Geld für den Bund Deutscher Mädel. Dies reichte dem Potsdamer Erbgesundheitsgericht 1935 aus, um die Diagnose eines „angeborenen Schwachsinns“ zu stützen. Auf Beschluss des Gerichts wurde die 18-jährige Emma L. in der Landesfrauenklinik in Berlin-Neukölln zwangssterilisiert.

Vom Schicksal dieser jungen Frau berichtete die Historikerin Annemone Christians am Donnerstagabend in ihrem Vortrag über das nationalsozialistische „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ vom 14. Juli 1933. Christians hielt ihren Vortrag über die nationalsozialistische „Rassenhygiene“ in der Gedenkstätte Lindenstraße 54/55 – an jenem Ort, an dem vor knapp 80 Jahren die Lebenswege vieler Menschen auf staatliche Anordnung hin nachhaltig beschädigt wurden: Wer hier als „erbkrank“ galt, dem sprach das im Haus residierende Erbgesundheitsgericht die Freiheit ab, Kinder zu bekommen. Die Betroffenen wurden zwangssterilisiert.

In Potsdam wie auch anderswo dauerten die Gerichtsverfahren oft nur wenige Minuten. Häufig wurde einfach nach Aktenlage und ohne Anhörung der Betroffenen die Zwangssterilisation verfügt. Man verhandle „im Minutentakt“, gab der Vorsitzende des Potsdamer Erbgesundheitsgerichts Walter Heynatz damals selbst zu Protokoll, wie Christians berichtete. Nach den Erkenntnissen der Historikerin stammten zwei Drittel aller am Potsdamer Erbgesundheitsgericht gestellten Anträge auf Unfruchtbarmachung von Hans Heinze. Er war zunächst Leiter der Landesanstalt Potsdam, ab 1938 Chef der Landesanstalt Brandenburg-Görden.

Nicht immer führte ein solches Gerichtsverfahren dazu, dass die Zwangssterilisation verfügt wurde. So schilderte Christians das Schicksal des Otto S. aus Glienig. Bei dem 33-Jährigen hatte der Jüterboger Amtsarzt einen „angeborenen Schwachsinn“ diagnostiziert und daraufhin einen Sterilisationsantrag gestellt. Das Potsdamer Erbgesundheitsgericht lehnte den Antrag jedoch ab. Begründung: Otto S. weise zwar „auf verschiedenen Wissens- und Erfahrungsgebieten Mängel“ auf, doch ausgerechnet seine Aktivitäten bei der SA sprächen gegen die Diagnose „angeborener Schwachsinn“. Historikerin Christians zitierte aus der Gerichtsakte: Innerhalb der SA sei Otto S. „in seinem Sturm keinesfalls als schwachsinnig aufgefallen“. Und weiter: „Gerade der Umstand, dass er das SA-Sportabzeichen erworben hat, spricht überzeugend gegen das Vorhandensein von Schwachsinn.“

Wer unter eines der von den Nationalsozialisten festgelegten vermeintlichen oder tatsächlichen Krankheitsbilder fiel, der musste mit der Zwangssterilisation rechnen. Schizophrenie, Epilepsie oder körperliche Behinderungen zählten dazu. Sehr häufig diagnostizierte man Christians zufolge aber auch einfach nur „angeborenen Schwachsinn“ – ein Sammelbegriff für Verhalten, das außerhalb der nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft“ verortet wurde.

Viele Verfolgte, denen die Zwangssterilisation drohte, versuchten, das Gericht von ihrer „Erbgesundheit“ zu überzeugen. So berichtete Christians vom Schicksal des 23-jährigen Gustav K. Er schrieb an das Potsdamer Gericht: „Ich möchte gerne wissen, was ich für eine Krankheit haben soll. Ein Erbfaktor kann es nicht sein, da ich mir nicht bewusst bin, dass es jemand von meinen Verwandten gehabt hat. Ich habe Krämpfe erst seit dem 18. Lebensjahr, und zwar erst dann, wenn ich schwere Arbeit geleistet habe.“ Das Gericht ließ sich davon nicht überzeugen und schloss sich dem psychiatrischen Gutachten an, das K. bescheinigte, „aus einer biologisch minderwertigen Sippe“ zu stammen. Holger Catenhusen

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })