Landeshauptstadt: Regierungslänglich
Potsdamer Schüler im Gespräch mit Zeitzeugen des DDR-Widerstands
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Berlin Tiergarten – Sie haben sich gegenseitig Englisch, Russisch oder Mathe beigebracht, im Chor gesungen oder Geschichten erzählt – aus Büchern, die sie irgendwann gelesen und Filmen, die sie irgendwann gesehen hatten. Nichts Ungewöhnliches, wenn 400 Jugendliche zusammenkommen. Aber die Jugendgruppe, von der Gerhard Bartsch und Günther Schlierf am Dienstag berichteten, war keineswegs gewöhnlich: Die beiden verbüßten in der DDR der 1950er Jahre eine Strafe im „Jugendsaal“ des Bautzener Gefängnisses – Bartsch wegen der Mitarbeit in der CDU-Jugendorganisation im sächsischen Löbau und Schlierf, weil er SPD-Plakate in Ost-Berlin geklebt hatte: „Wir sitzen hier regierungslänglich“, erinnerte sich der 75-Jährige Bartsch an den „Slogan“ unter den 400 Mithäftlingen.
Insgesamt vier Zeitzeugen des Widerstands gegen die SED-Diktatur stellten sich am Dienstag den Fragen von Jugendlichen im Großen Saal von Schloss Bellevue. Auch 25 Schüler der Waldorfschule Potsdam und 30 Schüler der Gesamtschule Joseph Peter Lenné waren auf Einladung von Horst Köhler und der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur gekommen. Catrin Eich, Leiterin der Geschichtsswerkstatt „Lindenstraße 54“, hatte die zwei Schulen ausgewählt, weil beide sich in der Aufarbeitung der DDR-Geschichte engagieren, wie sie am Dienstag den PNN erklärte. Die Waldorfschüler haben für einen Dokumentarfilm über oppositionelle Jugendliche in der DDR im Juni 2007 den diesjährigen Victor-Klemperer-Preis verliehen bekommen. Lenné-Schüler hatten mit einem Film über drei Diktaturen Aufmerksamkeit erregt. Sie nutzten die Gelegenheit, dem Bundespräsidenten am Dienstag eine Kopie zu überreichen.
Nachdem der Moderator zunächst eine Stunde lang im Eiltempo durch die Geschichten der vier Podiumsgäste führte – die Diskussion wurde live im Radio übertragen – gab es dann auch einige Minuten Fragezeit für die Schüler. Sie wollten zum Beispiel wissen, wie die vier Zeitzeugen ihre jahrelangen Inhaftierungen überstanden haben: „Das frag ich mich manchmal auch“, antwortete Bartsch. Gerade die Anfangszeit sei schlimm gewesen: Unzureichende hygienische Zustände, dazu die ständigen Beschimpfungen als „Faschist“. Schlierf wurde nach eigenen Angaben tagelang durch Tritte am Schlafen gehindert. Hinzu kamen nächtliche Verhöre. Das Schuldeingeständnis, was ihm eine Verurteilung zu 25 Jahren Arbeitslager einbrachte, habe er schließlich nur unterschrieben, um wieder schlafen zu können, erzählte Schlierf am Dienstag mit Galgenhumor.
„Wie beherrscht sie über die Zeit sprechen konnten“, beeindruckte Waldorfschülerin Zoya Ghorbani besonders. Die 19-Jährige fragte sich aber auch, „inwieweit die Erinnerung ihnen keinen Streich spielt“. Lenné-Schüler Dennis Pietsch hält die Auseinandersetzung mit der DDR-Diktatur in der Schule für „sehr wichtig“. Zwar habe er mit seinen Eltern darüber geredet: Sein Vater, der aus einem Dorf nahe Bautzen stammt, habe allerdings „nicht sehr viel mitbekommen“, wie der 18-Jährige feststellte. Die Familie von Paula Stadthaus dagegen erlebte die schlimmen Seiten der DDR: So habe ihr Vater kein Abitur ablegen dürfen, weil er Mitglied der Jungen Gemeinde war, erzählte die Lenné-Abiturientin. Selbst der Meisterbrief als KFZ-Mechaniker sei ihm verwehrt worden. Von den Zeitzeugen hätte sie „gern mehr gehört – und mehr Fragen gestellt“. Jana Haase
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