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Landeshauptstadt: Saufen was geht

Im Art Speicher und anderswo in Potsdam gibt es für wenig Geld viel Alkohol – die Politik will reagieren

Stand:

Am Ende ist er rotzbesoffen. Wie so viele am Samstagabend in Potsdam. Er ist ein junger Mann, geschätzte 19 Jahre alt, Glatze, schmale Gestalt. Seine dunkelblonde Freundin läuft längst rund 50 Meter vor ihm. Und sein Kumpel muss ihn stützen. Schlangenlinienlauf um kurz vor vier Uhr morgens auf der Zeppelinstraße. Sie kommen aus dem Art Speicher, der einzigen Potsdamer Disko, in der regelmäßig so genanntes Flatrate-Trinken angeboten wird: Bei der „All you can drink“-Party dürfen Frauen für zehn und Männer für 15 Euro mitmachen. Einzige Bedingung: Sie müssen über 18 sein und ihren Ausweis den bulligen Security-Männern vorzeigen. Drinnen warten typische Disko-Musik und Alkohol: Bier, Longdrinks mit Wodka, Cocktails – alles inklusive. Ein Abend mit Flatrate:

23.30 Uhr: Viel ist noch nicht los. Geschätzte 50 Personen. Ein Longdrink steht an der Bar schon bereit. Setzen, trinken. Flaterate-Partys wie im Art Speicher sind ins Gerede gekommen, seit sich in Berlin vor einem halben Monat ein 16-Jähriger mit 50 Tequila-Gläschen ins Koma soff. Gerade in Brandenburg wird Alkoholismus als Problem gesehen – auch in Potsdam. Aktuelle Zahlen fehlen aber, die letzte Studie stammt aus dem Jahr 2005. Damals konstatierten die Forscher im Auftrag der Landessuchtkonferenz, dass der Anteil trinkender Potsdamer Jugendlicher höher sei als im Bundesschnitt. Demnach trinken 31 Prozent der männlichen und 18 Prozent der weiblichen Jugendlichen im Alter von rund 16 Jahren wöchentlich mindestens einmal Alkohol. Als starke Trinker gelten 15 Prozent der Jungen und 7,5 Prozent der Mädchen. Mit 14 Jahren erleben Potsdamer im Schnitt den ersten Vollrausch, gefolgt von weiteren Abstürzen. Die Schulart spielt keine Rolle, teilweise trinken Gymnasiasten sogar mehr.

0 Uhr: Das Publikum im Art Speicher dürfte die Statistikwerte erhöhen. Etwa 80 Personen sind es inzwischen. Um Mitternacht sagt der DJ ein paar Geburtstage durch, die am Einlass durch die Ausweiskontrolle ermittelt wurden: 22 und 24. „Happy Birthday“, schallt es. Anstoßen. Ein paar junge Männer blödeln rum. Aber alles friedlich. Das ist im Art Speicher nicht immer so. Dieses Jahr gab es mindestens zwei Schlägereien: Ein 24-Jähriger wurde in der Nacht zum 4. März von einem 20- und einem 21-Jährigen erst mit Fäusten bearbeitet, dann getreten. Mitte Februar verletzte ein 21-Jähriger einen ein Jahr jüngeren Jugendlichen mit einem Glas derart, dass dieser mit elf Stichen im Gesicht genäht werden musste. 2006 hat die Polizei fünf Einsätze in der Disko gezählt, zu denen wegen Körperverletzungen ermittelt wird. Allerdings sei der Art Speicher deswegen kein „Brennpunkt“, so Polizeisprecherin Angelika Christen: „Orte wie Art Speicher, Lindenpark oder Waschhaus werden am Wochenende besonders beobachtet, da es dort immer wieder zu Rangeleien kommt.“

1 Uhr: Inzwischen schwankt ein Mädchen bedenklich. Sie versucht, an einer Stange am Rande des Raums erotisch zu tanzen, muss sich aber dabei festhalten. Ihr Freund küsst sie trotzdem. Die Luft wird dicker. Zigarettenqualm. Joachim Witt singt den goldenen Reiter, einige Gäste gröhlen den Refrain mit: „... ich bin der Held dieser Stadt.“

Lohnen sich solche Abende eigentlich finanziell? Gibt es moralische Bedenken, Jugendliche besoffen zu machen? Trotz mehrmaliger Anfrage ist von Art Speicher-Chef Frank Spiesecke keine Auskunft zu erhalten.

2 Uhr: Vielen der verbliebenen rund 60 Gäste ist ihr Alkoholkonsum nun deutlich anzusehen. Bei drei jungen Männern gehen die Arme immer wieder nach oben: Gröhl-Gesten. Die meisten sind in Gruppen gekommen. Einer der Jungs rempelt zufällig an einen anderen, sagt „Prost!“ - ab einem gewissen Pegel wohl das andere Wort für „Entschuldigung“.

Brandenburgs Gesundheitsministerium begegnet dem Alkohol-Problem mit einer Fachtagung der Landessuchtkonfernenz, auf der ein „flächendeckendes, kontinuierliches und langfristiges Programm zur Eindämmung des Alkoholkonsums“ aufgelegt werden soll, wie Ministeriumssprecher Jens Büttner mitteilt. „Ob Flatrate-Trinken verboten werden kann, muss rechtlich geprüft werden“, sagt Büttner. Auf jeden Fall solle darauf hingewirkt werden, dass Einlasskontrollen verstärkt werden. Hier liege die Verantwortung bei den Ordnungsämtern, so Büttner. In Potsdams Verwaltung ist man über die Sachlage auch nicht glücklich, wie Jugendamtsleiter Norbert Schweers betont. Doch seien maximal Regelungen über das Gewerbeaufsichtsamt möglich – oder über das Ordnungsamt. „Doch wir können nicht an jeden Tresen einen Mitarbeiter stellen, der untersagt, an Betrunkene Alkohol auszuschenken.“ Käme das vor, würden den Betreibern der Bars laut dem bundesweit gültigen Gaststättengesetz jedoch Geldstrafen drohen, so Schweers.

3 Uhr: Der Krankenwagen ist da. Zwei junge Männer stützen einen Freund, der offenbar mit dem Fuß umgeknickt ist. Drinnen geht die Party ohne Störung weiter: 30 Leute sind noch da, tanzen zu Techno-Versionen von Klassikern aus den 1980ern. Oder trinken weiter.

Von fünf bis zehn Alkohol-Patienten pro Wochenende geht Bernhard Giese-Leung, Sprecher des Ernst-von-Bergmann-Klinikums, aus. „Am Männertag oder zur Baumblüte in Werder sind es noch mehr.“ Komapatienten seien kaum darunter, eher Opfer von Schlägereien oder Verletzte nach Stürzen im Rausch. Es habe in den vergangenen Jahren eine „leichte Zunahme“ solcher Fälle gegeben.

3.40 Uhr: Der Schlangenlinien-Mann läuft seiner Freundin weiter hinterher. Holt sie aber offenbar nicht ein. Ein weiterer Laden auf dem Weg zur Innenstadt ist das Black Fleck, ein Punkschuppen an der Zeppelinstraße. Dort gibt es zwar keine Flatrate, aber das Bier kostet nur einen Euro. Auf einem Sofa liegen zwei Typen, schlafen ihren Rausch aus. Keiner kümmert sich. Alkohol-„Leichen“, die in keiner Statistik auftauchen.

Hilfe bei Alkoholproblemen gibt es in Potsdam bei der AWO Suchtberatung unter Tel.: (0331) 2801397 oder beim Verein Chill Out unter Tel.: (0331) 581 32 31.

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