Am 19. September wählt Potsdam einen neuen Oberbürgermeister. Sieben Männer und Frauen bewerben sich um das Amt. Was macht sie und ihre Politik aus? Was wollen sie in der Landeshauptstadt bewegen? Heute: MAREK THUTEWOHL, Piratenpartei (Folg: schwarzer Flagge
Rechts vor links ist für den Fahrlehrer nur während der Arbeit die Ultima Ratio allen Handelns. Politisch gilt für Marek Thutewohl, Oberbürgermeisterkandidat der Piratenpartei, eine andere Marschrichtung: „Wir sind nicht rechts und nicht links.
Stand:
Rechts vor links ist für den Fahrlehrer nur während der Arbeit die Ultima Ratio allen Handelns. Politisch gilt für Marek Thutewohl, Oberbürgermeisterkandidat der Piratenpartei, eine andere Marschrichtung: „Wir sind nicht rechts und nicht links. Wir sind vorn.“ Der „noch“ 45-Jährige will der im Grundgesetz verankerten Demokratie zum Durchbruch verhelfen. Bürgerbeteiligung sei derzeit nur eingeschränkt möglich. Es werde „viel Lobbypolitik“ betrieben. Als sich die Potsdamer Piratenpartei am 20. September 2009 auf dem Restaurantschiff „John Barnett“ an der Schiffbauergasse gründete, war es nicht der erste Parteieintritt Marek Thutewohls. „Zwangsläufig“ sei er während der Armeezeit in die DDR-Staatspartei SED eingetreten. Er wollte als Unteroffizier weiter in Potsdam stationiert sein. Ohne dieses ihm aufgenötigte „Bekenntnis zu unserem Staat“ wäre er in das grenzfernere Kirchmöser versetzt worden – und Kirchmöser, grinst Thutewohl, während Fahrschüler Felix neben ihm versucht, den Fahrschul-Golf auf Touren zu bringen, wäre „nun wirklich keine Alternative gewesen“. Kirchmöser liegt gleich bei Brandenburg an der Havel, dort, im Stahlwerk, absolvierte er eine Schlosserlehre. Anschließend ging es zur Armee.
Der geborene Rathenower hatte in Potsdam seine „Lieblingsstadt“ gefunden; er wollte nicht mehr weg. Es entsteht eine kurze Denkpause, in der Felix, ein Gymnasiast, im Getriebe schon recht erfolgreich nach den Gängen sucht. Plötzlich unterbricht Thutewohl das Schweigen. „Und nein: Ich war nicht bei der Stasi!“. Im Gegenteil, es existierten Berichte über ihn, von Leuten, „die ich für Freunde gehalten habe“.
Zu seinem Beruf fand er, nachdem ihm sein Fahrlehrer 1988 vorschlug, doch auch Fahrlehrer zu werden. „Da werde ich mich wohl nicht ganz schlecht angestellt haben.“ Ruhe und Verständnis für die Gedankengänge von Fahranfängern sei genauso Einstellungsvoraussetzung wie „eine große Arbeitsbereitschaft“: Wenn andere um 16 Uhr Feierabend machen, „dann fängt mein Tag erst richtig an“. Ein Fahrlehrer kennt keinen geregelten Tagesablauf, was aber Thutewohls Naturell entgegen kommt. Fahrschüler, die sich als schwere Brocken erweisen – womit er keinesfalls Felix meint – begreift Thutewohl als Herausforderung. Es ist „ein persönlicher Sieg“, sagt er, wenn er einen schwierigen Fahrer dennoch erfolgreich durch die Fahrprüfung lotsen kann.
Nun will Marek Thutewohl Oberbürgermeister werden. Sein Traum wäre eine Stichwahl zwischen ihm und Benjamin Bauer von Die Andere. Der ist „jung, frisch und ohne jede Angst.“ Besser als Marcel Yon von der FDP will Thutewohl aber auf jeden Fall abschneiden. Und wer weiß, große Überraschungen kommen vor. Das erste, was er tun würde, sollten ihn die Potsdamer zu ihrem Oberbürgermeister wählen, wäre ein intensives Studium der Akten und Dokumente. Um herauszufinden, was sich kurz- und was sich mittelfristig verbessern lässt. Die Parkraumbewirtschaftung etwa müsste sinnvoll gestaltet werden. In Schweden, wo die Piratenpartei ihren Ursprung hat, würden für Touristen kostenlose Parkhäuser gebaut, um die Innenstädte zu entlasten. In Potsdam ginge es dagegen nur darum, so viel wie nur möglich Geld einzunehmen.
Steuermann-Qualitäten hat Marek Thutewohl durchaus. Als Felix sich anschickt, in die linke Heckseite eines Transporters zu fahren, greift der Fahrlehrer wortlos ins Lenkrad und zieht den Golf nach links aus dem Kollisionskurs. Sein Puls dürfte dabei kaum angestiegen sein, er setzt in seiner Rede dort fort, wo er aufgehört hat. Alles Routine. Wenig später scheint es der Fahrschüler mit einer ganzen Reihe von Alleebäumen aufnehmen zu wollen. Ruhig sagt Thutewohl, ohne jeden Unterton eines Vorwurfs: „Noch zehn Zentimeter nach rechts und der Spiegel ist ab.“
Was denkt ein Fahrlehrer, wenn er mit seinem Eleven an Holzkreuzen vorbeifährt, den stummen Zeugnissen tödlicher Verkehrsunfälle? Thutewohl: „Wir nehmen nur für wenige Wochen Einfluss, der Rest der Gesellschaft 20 Jahre lang.“ Die jungen Leute „fahren so, wie sie es als Kind bei ihren Eltern gesehen haben“. Beim praktischen Fahrunterricht hat Thutewohl keine Angst vor einem Unfall. „Wir fahren ja zu zweit und sind als Team unschlagbar“, sagt der Fahrlehrer und schaut zu Felix, der seine Anspannung nur hin und wieder dadurch verrät, dass er tief und schnell ein- und ausatmet.
Am Ende werde sich wohl Amtsinhaber Jann Jakobs bei dieser Wahl noch gerade so aus der Affäre ziehen können, glaubt der Fahrländer. Auch wenn das nicht nach Brachialverurteilung klingt: Thutewohl wünscht sich mehr Transparenz in der Verwaltung; die Kostenexplosion bei der Sanierung der Humboldtbrücke ist für ihn nicht nachvollziehbar. Auch der Sanierungszustand der Schulturnhallen sei beklagenswert: „Man muss sich nur einmal die Ruine vom Helmholtz-Gymnasium ansehen.“
Thutewohl hat eine erwachsene Tochter. Mit seiner Lebenspartnerin ist er gerade nach Fahrland gezogen, in ein schönes Dachgeschoss mit einem großem Küche-Wohnzimmer-Bereich, in dem noch nicht alles an der Stelle ist, wo es hingehört. Aber wenn er spät am Abend von der Arbeit kommt, kann er keine Löcher mehr in die Wand bohren, aus Rücksicht vor den Mietern im Erdgeschoss. Thutewohl packt die Brotschneidemaschine aus der Umzugskiste und, auch ganz wichtig, die Thermoskanne für den Kaffee. Charlie neben ihm zwitschert aufgeregt. Das Verhältnis zu dem Wellensittich seiner Freundin muss sich noch entwickeln. Er hat wenig Verständnis für so wenig Freiheitsliebe: So oft er auch die Käfigtür öffnet, der grüne Vogel will einfach nicht wegfliegen Thutewohls handwerkliche Fähigkeiten erlauben es, die alte Küche an neuem Ort selbst wieder aufzubauen. Er witzelt: „Ich bin doch noch nicht Oberbürgermeister und kann mir deshalb auch keine neue Küche für 10 000 Euro kaufen.“ Fahrlehrer verdienen so 1000 bis 1200 Euro netto im Monat. Große Sprünge kann er nicht machen, ohne dass er aber deshalb mit seiner Situation unzufrieden wirkt. Auf der Gitarre, die er „bestimmt ein Jahr nicht mehr gespielt hat“, klebt ein Aufkleber: „Don’t worry, be happy!“
Seine Leidenschaft sind historische Romane, ein ganzes Regal, bereits aufgebaut und gut bestückt, bezeugt es. Thutewohl liest Noah Gordon, Ken Follett; „von Rebecca Gablé fresse ich jedes Buch“. In den Romanen geht es beispielsweise um das historische England, um die Kelten oder die Varusschlacht. Es mache ihn stolz, dass die Germanen im Jahre neun nach Christus die Römer geschlagen haben. Thutewohl hat einen großen politischen Ideenraum. Dazu gehören die Einführung eines „bedingungslosen Grundeinkommens“ und die Abschaffung der Sektsteuer, mit schon Wilhelm II. die deutsche U-Boot-Flotte finanzierte. Als Oberbürgermeister wird Thutewohl damit nicht befasst sein. Sich aber zunächst um einen dritten Havelübergang zu bemühen, wäre ja schon einmal ein Anfang.
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: