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Landeshauptstadt: Solidarität – und Absagen

Kundgebung am Freitag auf dem Luisenplatz / Erste Hotel-Stornierungen: Nigerianer sagen Potsdam ab

Stand:

Drei Tage nach dem offenbar rassistisch motivierten Überfall auf den Potsdamer Deutsch-Afrikaner Ermyas M. bekennt die Stadt Farbe. Mehrere hundert Potsdamer beteten gestern Abend in der Friedenskirche für den 37-jährigen Familienvater, der nach wie vor in Lebensgefahr schwebt. Bereits am Nachmittag veranstalteten die Jugendorganisationen von Grünen, CDU, SPD und PDS eine Kunstaktion in der Brandenburger Straße. Dabei konnten Bürger ihre Hände in Farbe tauchen und auf große weiße Papierbögen pressen, um danach zu unterschreiben.

Am morgigen Freitag findet zudem ab 17 Uhr auf dem Luisenplatz eine Solidaritätskundgebung statt – Oberbürgermeister Jann Jakobs rief die Potsdamer und ihre Gäste zur Teilnahme auf. Wie die Stadt mitteilte, werden auf der Kundgebung mehrere Redner zum Thema Rassismus und Rechtsextremismus sprechen, Vereine, Aktionsbündnisse und Institutionen sollen ihre Arbeit gegen Gewalt und Fremdenfeindlichkeit anschaulich machen. Musikbands hätten ihre Teilnahme bereits zugesagt. Unterstützt wird die Kundgebung auch vom „Beirat für Toleranz und Demokratie gegen Gewalt, Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit der Landeshauptstadt Potsdam“, dem „Aktionsbündnisses gegen Gewalt, Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit“ des Landes Brandenburg, der Koordinierungsstelle „Tolerantes Brandenburg“, dem Ausländerbeirat der Stadt, von Parteien, der evangelischen Kirche, der Ausländerbeauftragten des Landes, der Tourismus-Marketing Brandenburg GmbH und Potsdamer Studierenden.

Zudem riefen Freunde der Familie des Opfers, der Verein „Brandenburg gegen Rechts e.V.“ und Oberbürgermeister Jakobs gestern zu Spenden für Ermyas M. und seine Familie auf. Mit dem Geld sollten die um die abzusehenden hohen Kosten für den Krankenhausaufenthalt, Rehabilitation, Rechtsbeistand und die Unterstützung der Familie getragen werden (Kontoverbindung siehe Kasten links).

Am Sonnabend wird außerdem eine bereits länger geplante Demonstration der EU-Flüchtlingsinitiative „Jugendliche Ohne Grenzen“ stattfinden. Angesichts des Mordversuchs werden nun deutlich mehr Teilnehmer erwartet, vor allem Potsdamer Migranten. Treffpunkt der Demonstration ist um 12.30 Uhr am Hauptbahnhof.

Unterdessen zieht der versuchte Mord an dem in Äthiopien geborenen Ermyas M. erste Konsequenzen für die Stadt nach sich: Eine nigerianische Regierungsdelegation stornierte gestern ihre Zimmer im Voltaire-Hotel in der Innenstadt. Die Teilnehmer eines Wirtschaftkongresses hätten „Angst vor rassistischen Überfällen“, sagte Hoteldirektorin Beate Fernengel den PNN. Die nigerianische Delegation habe über eine Pressemeldung in einer nigerinischen Zeitung von der fremdenfeindlichen Straftat erfahren, erklärte Jens Uhlmann von der Industrie und Handelskammer (IHK), die den Kongress veranstaltet. Ursprünglich sollten gestern 15 Personen, darunter der Verkehrsminister des afrikanischen Landes, Precious Sekibo, und eine königliche Hoheit aus dem Binnen-Nildelta, das Hotel an der Friedrich-Ebert-Straße beziehen – die Gäste übernachten nun in Berlin.

Dies ist bereits die zweite Absage an Potsdam nach dem Überfall: Bereits am Dienstag hatte Oberbürgermeister Jann Jakobs ein Fax der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin erreicht. Die Mediziner ziehen in Erwägung, den jährlich en Hausärztekongress in Potsdam abzusagen. „Es scheint für Menschen, die sich () durch ihre Hautfarbe von der ,Mehrheit“ der deutschen Bevölkerung unterscheiden, nicht mehr ohne Risiko möglich zu sein, sich frei in Potsdam, aber auch in anderen Städte und Gemeinden Deutschlands zu bewegen“, so die Begründung. An der Veranstaltung im Herbst sollten rund 700 Ärzte teilnehmen. Allein durch die gestrige Stornierung entsteht laut Voltaire-Hoteldirektorin Fernengel ihrem Haus ein Schaden von mehr als 1000 Euro. „Der Überfall war eine schlimme Tat“, so Fernengel: „Wir müssen aufpassen, Potsdams Image ist in Gefahr.“

Ähnlich sieht das auch die deutsche und internationale Presse: „Potsdam galt bislang nicht als Hort rechter Gewaltexesse – mit dem Fall Ermyas S. könnte sich das ändern“, schreibt die Frankfurter Rundschau. Und die Taz: „Potsdam, welch ein Albtraum“. Auch durch die internationalen Medien ging die Nachricht vom Überfall: „Rassistischer Angriff alarmiert die Deutschen“, meldete etwa der britische Radiosender BBC am Montag. Die Khaleej-Times aus den Vereinten Arabischen Emiraten spricht von einer „rassistischen Attacke“ und bringt sie mit anderen fremdenfeindlichen Übergriffen wie dem Mord an dem Angolaner Antonio Amadeo in Eberswalde in Verbindung. Der italienische „Corriere della Sera“ titelte am Dienstag: „Äthiopischer Ingenieur in Deutschland angegriffen“ und zitiert in einem ausführlichen Bericht auch aus der Handy-Anrufbeantworter-Aufnahme der Ehefrau des Opfers die von den mutmaßlichen Tätern geäußerten Beschimpfungen: „Dreckiger Nigger“.

Wie lange fremdenfeindlich und rassitisch motivierte Übergriffe Ruf und Ansehen einer Stadt prägen, zeigen die Ausschreitungen im Rostocker Stadtteil Lichtenhagen vom August 1992. Noch immer würden die bis dahin größten ausländerfeindlichen Gewalttaten der deutschen Nachkriegsgeschichte von den Medien thematisiert, so der Pressesprecher der Stadt Rostock Ulrich Kunze. Damals hatten Rechtsextremisten vier Tage lang unter Bebobachtung von 3000 Schaulustigen Asyl- und Gastarbeiterunterkünfte angegriffen. Zwar habe man zwei Jahre nach der Wende keine nachvollziehbare Resonanz für Wirtschaft und Tourismusbranche gespürt – doch habe sich Lichtenhagen deutlich langsamerentwickelt als die anderen Stadtteile. So sei erst vor kurzem das erste Shoppingcenter in dem Plattenbaugebiet eröffnet worden.

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