Landeshauptstadt: Spionin für die Résistance
Die 95-jährige Marthe Cohn spionierte im Zweiten Weltkrieg gegen Nazi-Deutschland. Am Gymnasium Hermannswerder berichtete sie jetzt Schülern davon
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Ein wenig habe sie Angst gehabt, sagt die 95-Jährige. Zum ersten Mal in ihrem Leben sollte sie vor deutschen Schülern sprechen. Marthe Cohn hat schon unzählige Vorträge gehalten, in Europa, den Vereinigten Staaten, aus ihrer Autobiografie vorgelesen, vor französischen und amerikanischen Jugendlichen von ihrer Zeit als Widerstandskämpferin im Zweiten Weltkrieg erzählt. Aber sie, die als Jüdin für die Résistance als Spionin im Nazideutschland unterwegs war, hat erst 70 Jahre nach Ende des Krieges ihre Premiere vor Zehnt- und Elftklässlern in Deutschland. Sie wusste nicht, wird sie nach der Veranstaltung am Evangelischen Gymnasium Hermannswerder am Mittwoch sagen, wie die Schüler reagieren würden.
Marthe Cohn ist eine kleine Frau, gerade mal 1,50 Meter. Selbst als sie fröhlich beide Arme gleichzeitig hebt, um auf dem Weg in die Aula die Schüler zu begrüßen, geht sie unter, man sieht sie kaum. Vielleicht war ihre geringe Größe – „ich war klein, nicht ganz so klein wie jetzt“, sagt sie – ein Grund, dass sie den Krieg überlebte. Ein anderer war, dass sie eine Frau war. Eine kleine jüdische Frau, blond und blauäugig.
Aber erst einmal waren das genau die Gründe, warum sie abgelehnt wurde. 1940, als die Deutschen in Frankreich einmarschierten, war Marthe Cohn 20 Jahre alt. Überall versuchten Juden, sich zu retten, sie wurden versteckt in den Dörfern im Süden des Landes, in den Bergen, im Hinterland, „sie riskierten ihr Leben und das ihrer Angehörigen“. Auch sie und ihre Eltern, ihre Schwester – die schließlich in Auschwitz ermordet wurde – und ihre fünf Brüder fanden so Unterschlupf. Als Frankreich erst kollabierte und dann kollaborierte, sei es für sie selbstverständlich gewesen, dass sie den Juden und den Widerstandskämpfern helfen musste. Aber wie? Für den Kampf im Untergrund fehlte ihr die Courage, sagt sie. Ihre ersten Versuche, bei der Armee als Krankenschwester anzuheuern, liefen ins Leere, man nahm sie nicht ernst, schickte sie wieder nach Hause zu ihrer Mutter. Erst als sich herausstellte, dass sie als Elsässerin ja fließend Deutsch sprach, war ihr Einsatzort gefunden. Kein Franzose konnte sich in Deutschland auf die Straße trauen, schließlich waren alle Männer von 12 bis zum Rentenalter zur Wehrmacht eingezogen. Marthe Cohn aber würde nicht auffallen.
Die alte Dame erzählt ihre Geschichte auf Französisch. Deutsch hat sie seit 1956 nicht mehr gesprochen, seitdem lebt sie in Kalifornien. Manchmal kämen ihr deutsche Wörter in den Sinn, sagt sie. Aber keines kommt über ihre Lippen.
Die Erinnerungen scheinen wie ein Text in ihrem Kopf gespeichert. Ihr falle es überhaupt nicht schwer, von der Zeit zu erzählen, wird sie später auf die Frage einer Schülerin antworten, nichts habe sie vergessen, die Erlebnisse lebten fort in ihrem Geist. Nur manchmal kommt die Sprache darüber ins Stocken, dann ist ihr Mann da, der neben ihr sitzt – „mein Souffleur“, wie sie sagt –, um ihr den Faden der Erzählung wieder zu reichen.
Einmal aber habe die Erinnerung sie verlassen. Im Winter 1944/45, dieser besonders kalte schneereiche Winter, sollte sie des Nachts in den Vogesen die Grenzlinie überqueren, um in dem Dorf auf der anderen Seite die Stimmung unter den Deutschen zu erspüren. Ein weites verschneites Feld lag vor ihr, sie hatte nichts dabei, keine Taschenlampe, nichts dergleichen. Sie lief die ganze Nacht im Kreis, an einer Stelle fiel sie in ein Eisloch eines Kanals. Wie sie wieder herauskam, ist aus ihrem Gedächtnis wohl unwiderruflich gelöscht.
Daraufhin schickte man sie über die Schweiz nach Deutschland. Sie gelangte bis nach Freiburg – zu Fuß. Mit dem Zug zu fahren war unmöglich, zu groß die Gefahr, dass sie mit ihrem gefälschten Pass auf den Namen Martha Ulbricht aufflog. Als Krankenschwester half sie in Freiburg einem SS-Mann, der großspurig von den Schreckenstaten an der Ostfront erzählte und davon, wie er Juden auf einen Kilometer Entfernung riechen könnte. Martha Cohn stand direkt neben ihm.
„Ich bin viel gelaufen in Deutschland“, sagt sie. Sie sollte Informationen über die Vorkehrungen der Deutschen für einen möglichen Rückzug einholen. Sie sah die Siegfried-Linie, den massiven Westwall der Wehrmacht, bereits an weiten Stellen verwaist.
Sie war dabei, als der erste Panzer auf Freiburgs Hauptstraße einrollte. „Das waren die Franzosen, Sie können das bei Google nachprüfen“, sagt sie zu den Schülern. Marthe Cohn stellte sich mitten auf die Straße, dem Panzer in den Weg, hob die Arme zum Victory-Zeichen Winston Churchills. Sie hatte Glück, der Panzer hielt, er hätte die kleine blonde Frau auch überfahren können. Ihre Mission aber war noch nicht beendet, sie übermittelte Informationen über die Siegfried-Linie, gelangte über die Schweiz – diesmal mit dem Fahrrad – zurück nach Frankreich.
„Deshalb habe ich all die Medaillen bekommen“, sagt sie und zeigt auf den Flügel hinter sich, wo ihr Mann all die Auszeichnungen ausgebreitet hat: darunter das Bundesverdienstkreuz, das ihr im vergangenen Jahr überreicht wurde.
Mehr als vierzig Jahre aber hat Marthe Cohn – ganz und gar Spionin – Stillschweigen bewahrt über ihr Leben vor 45. Es habe aber auch in den USA und in Frankreich niemand wissen wollen, wie sie überlebte, sagt sie. Selbst ihr Mann und ihre Kinder wussten nichts von der Arbeit beim Geheimdienst. Die Söhne schrieben es dem Zufall zu, als ihre Mutter eines Tages im Hobbykeller in ihrem Haus in Kalifornien die Dartpfeile nahm und alle ins Ziel trafen.
Erst 1986 schien die Stunde gekommen, die Erinnerungen zur Sprache zu bringen. Steven Spielberg suchte für seinen Film „Schindlers Liste“ über eine Annonce in der „Los Angeles Times“ nach Widerstandskämpfern im Dritten Reich. Marthe Cohn ließ sich interviewen und meldete sich auch beim Holocaust-Museum in Washington D.C.
Seitdem ist sie viel unterwegs, vor allem in diesen Tagen ist sie eine gefragte Frau. Sie wird von ihrer Geburtsstadt Metz ausgehend durch Frankreich touren und ihre Geschichte erzählen. „Das ist so anregend“, sagt sie. „Ich treffe so viele extrem sympathische Menschen.“ Auch von ihren Zuhörern in Potsdam ist sie begeistert. Die Schüler seien großartig gewesen.
70 Jahre später, im Mai 2015, wird Marthe Cohn wieder in ihre Heimatstadt zu den Feierlichkeiten in Gedenken an das Kriegsende und den Untergang Nazi-Deutschlands 1945 zurückkehren.
Grit Weirauch
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