zum Hauptinhalt

Homepage: Stärker verflochten als angenommen

Michael Lemke vom ZZF hat eine Gesamtberliner Kultur- und Wirtschaftsgeschichte der Jahre 1948 bis 1961 geschrieben

Stand:

„Die Gesamtberliner Bevölkerung war resistent gegenüber den Einflüssen von Außen“, behauptet Michael Lemke. Lemke ist Professor an der Humboldt Universität und war bis vor kurzem Abteilungsleiter am Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) in Potsdam. Während seiner Zeit am ZZF hat er in rund vier Jahren ein Buch über das Berlin in der Zeit zwischen dem Zweiten Weltkrieg und dem Mauerbau geschrieben.

In seiner Publikation kommt Lemke zu dem Schluss, dass aufgrund der Systemkonkurrenz zwischen Kapitalismus und Sozialismus, die in Berlin auf aller engstem Raum ausgetragen worden sei, etwas Eigenes, Unverwechselbares entstanden sei. Das hätte Westberlin von allen anderen Großstädten der Bundesrepublik unterschieden. Ostberlin hingegen sei im Laufe der Jahre tatsächlich zur „Metropole der DDR“ geworden.

1000 Aktenbestände, die Bestände des Landesarchivs Berlin und zahlreiche Zeitungsartikel, Radiobeiträge und Zeitzeugen hat Lemke im Zuge seiner Forschungsarbeiten am ZZF ausgewertet. Er zeichnet das Bild einer „systemübergreifenden gemischten Gesellschaft, die Grundlage für einen mehrdimensionalen Austausch während des kalten Krieges“ war. Vielfach würden die Gesellschaften in Ost und West vor dem Mauerbau getrennt betrachtet. Das entspreche aber nicht den historischen Tatsachen. Ereignisse wie der Volksaufstand vom 17. Juni 1953 seien Gesamtberliner Ereignisse gewesen. Wissenschaftliche Arbeiten, die während des Kalten Krieges geschrieben worden seien, würden häufig den Geist der Blockbildung versprühen und wären ideologisch geprägt. Eine Betrachtung der Geschichte Berlins, in der eine Verflechtung von Kultur, Politik und Wirtschaft stattfinde, fehle bisher. Hier wolle er mit seinem Buch „Vor der Mauer“ erste Ansätze liefern.

Wie sich die Systemkonkurrenz innerhalb Berlins abgespielt hat, schildert Lemke anschaulich anhand prägnanter Beispiele. „Da gab es das ‚Scheuerlappengeschwader’. Frauen die von Ost nach West gefahren sind und dort geputzt oder andere Dienstleistungen erbracht haben, oder Arbeiter, die von Pankow zu Siemens in die westlichen Sektoren fuhren“. Vor dem Bau der Mauer habe es zahlreiche wirtschaftliche Verflechtungen zwischen den Sektoren gegeben. Die hätten sich deutlich zum Nachteil des sowjetischen Sektors ausgewirkt. Der Einkauf für Bürger aus den Westsektoren sei in den Ostsektoren sehr billig gewesen, andererseits hätten zahlreiche Fachkräfte aus den Ostteilen im Westen gearbeitet. Das habe zu einem immer stärkeren „Ausbluten“ des Ostens und schließlich zum Mauerbau geführt. Gegen den billigen Einkauf versuchte die Politik unter anderem mit Werbekampagnen vorzugehen, in denen „Herr Schimpf“ und „Frau Schande“ aufgefordert wurden, vom Schwarzkauf abzulassen. Das half allerdings ebensowenig wie die Versuche des Ostsektors, ihren Bürgern das eigene Kinoprogramm nahe zu bringen.

„Mit der Heidekrautbahn, die damals noch Dampfkessel hatte, sind wir aus Basdorf bei Wandlitz nach Berlin gefahren. In Wedding, bei Gesundbrunnen, gab es ein tolles Kino,“ erzählt der begeisterte Kinogänger Lemke. Das Kino sei ein wichtiger Teil der Kulturgeschichte Berlins. Aber die Ostkinos waren in einem vergleichsweise desolaten Zustand. Auch wollten die Bürger im Kino lieber glanzvolle, heitere Filme sehen und keine Lehrstücke über den vorbildlichen sozialistischen Menschen. Die geringe Resonanz auf ihr Programm kümmerte die SED indes wenig. Sowjetische Filme würden abgelehnt, „weil sie in der Thematik oft noch dem Bewusstsein unserer Menschen zu weit voraus sind“, konstatierten die Parteioberen. Richard Rabensaat

Vor der Mauer – Berlin in der Ost-West-Konkurrenz 1948 bis 1961; Michael Lemke; Böhlau Verlag Köln 2011; ISBN 978-3-412-20672-7; 79,90 Euro.

Richard Rabensaat

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })