Von Lene Zade: Sterilisation per Dekret
Das menschenunwürdige Wirken des Potsdamer Erbgesundheitsgerichts war Thema einer zeithistorischen Betrachtung
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Im November 1932 wird der Büroangestellte Erich W. aus Jüterbog nach Brandenburg in die Psychiatrie überstellt, Diagnose Schizophrenie. Ob eine unglückliche Liebesgeschichte die Krankheit auslöste, ist nicht mehr zu klären. Fest steht aber, dass der Anstaltsaufenthalt ihn nicht heilen, sondern im Gegenteil sein Leben bedrohen und es sogar gewaltsam beenden sollte. Denn nur wenige Monate später übernahmen die Nationalsozialisten die Regierungsgewalt in Deutschland. Eines der ersten Gesetze, die sie erließen, war das „zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ vom 14. Juli 1933. Um es durchzusetzen, wurden Erbgesundheitsgerichte geschaffen. Das Potsdamer, das seinen Sitz in der Lindenstraße 54/55 hatte, trat im März 1933, vor 75 Jahren, erstmalig zusammen.
Daran erinnerte die Historikerin Petra Fuchs vergangene Woche in einem Vortrag am Potsdamer Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF), der die ideologische Fundierung und die praktischen Konsequenzen dieser Gesetzgebung umriss. In der anschließenden Diskussion mit einem interessierten Publikum wurden Vor- und Nachgeschichte dieser Praxis thematisiert.
Schon vor 1933 und nicht nur in Deutschland gab es einen gesellschaftlichen Konsens über die Sterilisation von Menschen, die in Pflegeanstalten lebten. Die übliche Argumentation war pragmatisch und wenig human. Sterilisationen schienen Folgekosten zu sparen. Es gab nur sehr wenige Menschen, die derartige Gesetzesentwürfe ablehnten.
Deshalb hatten es die Nazis leicht, denn es fiel kaum auf, wie sehr die Befürwortung von Sterilisation ihrer Rassen-Ideologie diente. Der Schritt war nur ein kleiner. Das Kranke sollte jetzt aus der „Rasse“ entfernt werden. Ein Volk muss, so die Ideologie, gezüchtet werden, um seine „Aufartung“ zu gewährleisten. Und sei es unter Zwang. Denn dies war der entscheidende Unterschied: Menschen, die in der Nazi-Ideologie als fortpflanzungsunwert galten, wurden zwangssterilisiert. Sie wurden nicht gefragt. Wer taub oder blind war, an Epilepsie oder Schizophrenie litt, wem Schwachsinn diagnostiziert wurde oder wer an Alkoholsucht litt, musste damit rechnen, von seinem Arzt oder dem Pflegepersonal angezeigt zu werden.
Am Potsdamer Erbgesundheitsgericht wurden innerhalb von zehn Jahren 4120 Fälle verhandelt. Diese hohe Zahl ergab sich nicht zuletzt durch das Engagement des Psychiaters Hans Heinze, der systematisch seine Patienten ab dem 10. Lebensjahr erfasste und sie zur Anzeige brachte. Der Blick auf die Einzelfälle zeige, so Fuchs, dass nicht selten moralische Wertungen statt medizinische Indikatoren den Ausschlag gaben. Männer, die den gesellschaftlichen Ansprüchen nicht zu genügen, Frauen, die entgegen herrschender Moralvorstellungen zu leben schienen, waren der Gefahr ausgesetzt, als schwachsinnig eingestuft zu werden. Für die Forscherin überraschend ist die große Zahl von Beschwerden gegen die Anträge auf Unfruchtbarmachung. Zum Teil legten die Betroffenen selber Beschwerde ein, oft waren es die Eltern. Im Fall der Ablehnung folgte die Zwangssterilisation, so bei der 11-jährigen Martha G., deren Vater den Eingriff zu verhindern suchte.
1944 endete die Arbeit des Potsdamer Erbgesundheitsgerichts, die verbliebenen Anträge wurden nach Berlin überstellt. Etwa 350 000 Menschen wurden aufgrund des Gesetzes zwangssterilisiert. Rehabilitiert als Opfer des Nationalsozialismus wurden sie nach 1945 nicht. Es dauerte sehr lange, bis diese Übergriffe als Unrecht wahrgenommen wurden. Erst seit 1980 können Betroffene Anträge auf eine einmalige Entschädigungszahlung stellen. Seit 1990 dürfen sie eine monatliche Beihilfe von 120 Euro beantragen. Aber erst 1992 änderte sich mit dem neuen Betreuungsgesetz die Praxis, Betroffene ungefragt zu sterilisieren.
Erich W. wurde am 11. September 1934 sterilisiert. Seine Familie hielt zu ihm, in den Akten lassen sich Briefe und Besuchsgesuche der Mutter, seines Bruders und Schwiegervaters finden. All das rettete Erich W. nicht. Im August 1940 fiel er der berüchtigten Aktion T4 zum Opfer. So bürokratisch wurden die ersten Versuche benannt, Menschen durch Vergasen umzubringen. Sogenannte Geisteskranke waren die Opfer.
Lene Zade
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