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SERIE: Studium 1958 Leidenschaft für Fußball und feine Sprache

Die Fünf-Mann-WG in der Forststraße: Ihre Spitznamen haben die drei Sachsen und zwei Anhaltiner bis heute behalten. Von Josef Drabek

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Josef Drabek, 1939 in Böhmen geboren, studierte von 1958 bis 1962 an der Pädagogischen Hochschule Potsdam, dem Vorläufer der heutigen Potsdamer Universität. Das Studium schloss er als Fachlehrer für Deutsch und Geschichte ab. Derzeit schreibt Drabek seine Erinnerungen „Von Böhmen nach Brandenburg. Wege zwischen Weltkrieg und Wende“, deren erster und zweiter Teil vorliegt. Der dritte Teil zu Brandenburg beginnt mit der Studienzeit, Auszüge daraus erscheinen in den kommenden Monaten in den PNN.

Nach der Immatrikulation (PNN vom 27. Juni 2014) kehrte ich ins Studentenheim zurück, wo am Nachmittag andere Mitglieder unserer künftigen Fünf-Mann-WG eintrafen. Zuerst polterte mein unmittelbarer Mitbewohner ins Zimmer, knallte schnaufend seinen Koffer auf den Tisch und versuchte das Gepäckstück aufzuschließen. Während der Versuche gab er ein schniefendes „Mensch“ von sich und schließlich ein resignierendes „So ein Kriepel“. Dieses sächsische Schimpfwort, das ich aus dem Anhaltinischen als „Krepel“ kannte, machte mir bewusst, dass ein passender Kumpel eingezogen war.

Der vitale Dieter mit der Elvis-Frisur stammte aus dem erzgebirgischen Aue, was mir spontan die Begriffsverbindung mit Wismut aufdrängte, der DDR-Fußballoberligamannschaft. Zu deren Fans zählte mein Gegenüber, von dem ich in Theorie und Praxis jenes Rasensports viel lernte. Sein Fanatismus äußerte sich vor allem im emphatischen Gesang des Refrains der Vereinshymne: „Aber eins, aber eins, das bleibt besteh´n, Wismut Aue wird nie untergeh´n“. Seiner klangvollen Stimme wegen erhielt er den Spitznamen Richard, in Anlehnung an den österreichischen Tenor Richard Tauber, der in jener Bergstadt aufgetreten war und in Potsdam gewohnt hatte. Aus dem westerzgebirgischen Zwickau, wo 1958 bereits 20 000 Pkw Trabant vom Band rollten und die Fußballer der BSG Motor beheimatet waren, kam der künstlerköpfige Werner, der, wie auch ich mit Schwejk, schon einen Spitznamen mitbrachte, und zwar seinen nicht exakt ins Russische übertragenen Familiennamen: Most. Im Unterschied zu uns stammte er aus einer Angestelltenfamilie, hatte den neusprachlichen Oberschulzweig besucht, besaß gute Kenntnisse über Literatur und Theater, war sprachlich und umgangsförmlich gewandter als wir. Von diesen Vorzügen haben Richard und ich eine Menge profitiert.

Aus der Nachbar-WG zog der zweite Werner zu uns. Der „große Blonde“ kam aus dem Oberlausitzer Neukirch, brachte ein Faible für dortigen Zwieback und die Fußballelf von Einheit Dresden, vor allem die als „Äberlausitzer Sproche“ bekannte Mundart mit. Besonders fiel das retroflexe, amerikanisch rollende R auf, das die „Ebersbacher Edelroller“ in dem 1958 vertonten Gedicht von Oskar Rolle perfekt artikulierten. Der „Neukircher Edelroller“ lieh als Erster von uns aus der Brandenburgischen Landes- und Hochschulbibliothek in der Dortustraße ein Buch aus: „Das Übersetzen aus dem Mittelhochdeutschen“ von Franz Saran. Diese verdienstvolle Erstausleihe brachte ihm den mit rollendem R gesprochenen Spitznamen Saran ein. Der interessanteste Mitbewohner hieß ebenfalls Werner und stammte aus dem anhaltinischen Halberstadt. Bemerkenswert war seine Bekanntschaft mit dem Journalisten und Publizisten Walther Victor, der unter demselben Vor- und Familiennamen wie er vor den Nazis abgetaucht war. Bei dem kleinen W. V. glaubten wir, in Wuchs und Wesen Ähnlichkeiten mit dem durch den Reichstagsbrand bekannt gewordenen Niederländer zu sehen und gaben ihm deshalb den Spitznamen Lubbe. Leider teilte er nicht unsere Fußballleidenschaft – bei mir für Fortschritt Weißenfels –, war reservierter und ernster als wir, blieb aber bis zum Studienende integrierter Teil unserer Fünf-Mann-WG, in der jeder seinen Spitznamen behielt: Richard, Most, Saran, Lubbe und Schwejk – und das bis heute.

Fortsetzung folgt

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