Homepage: Subzentrale des Holocausts
Eine Publikation der Potsdamer Militärhistoriker befasst sich mit der Geschichte des Reichskommissariats Ostland 1941-44
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Die Menschen wurden aus den Zügen geholt, oft mussten sie sich entkleiden. Dann wurden sie zu den Gruben im Wald geführt und dort der Reihe nach erschossen. Aus kurzer Distanz, meist in den Hinterkopf. So war es geplant, der Massenmord sollte „ordentlich“ ablaufen. Dass die Bewohner des litauischen Erholungsortes Ponary (lit.: Paneriai) Tag für Tag die Schüsse hörten, dass einige von ihnen auch sahen, was dort über Jahre passierte, schien die Täter kaum zu kümmern. Im lettischen Libau soll es sogar zu einer Art Exekutions-Tourismus gekommen sein.
Allein die Zahl der Opfer in Ponary wird auf 70 000 bis 100 000 geschätzt. „Alles spricht dafür, dass der Judenmord auf dem Territorium der Sowjetunion öffentlicher, schamloser, mit unverhüllt zynischerer Gewaltanwendung als im übrigen Europa begangen wurde“, schreibt der renommierte Historiker Wolfgang Benz in dem Buch „Reichskommissariat Ostland – Tatort und Erinnerungsobjekt“, einer Publikation des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes Potsdam (MGFA) in Zusammenarbeit mit dem Institut für schleswig-holsteinische Zeit- und Regionalgeschichte (IZRG) und der Universität Flensburg.
Der in diesen Tagen erschienene Band liefert einen umfassenden Überblick über die bislang nur unzureichend erforschte Geschichte deutscher Besatzungspolitik im Baltikum von 1941 bis 1944. Deutlich wird dabei, dass sich der organisierte Massenmord der Nationalsozialisten und ihrer Kollaborateure an den europäischen Juden nach dem Überfall auf die Sowjetunion radikalisierte. Andererseits wird auch sichtbar, dass der „Barbarossa“ benannte Feldzug der Unterwerfung und Ausbeutung der besetzten Gebiete dienen sollte. Hier sollte Lebensraum für „Reichsdeutsche“ entstehen, hier sollte, neben der Ukraine, die Ernährung für das Deutsche Reich sichergestellt werden – auf Kosten von Millionen Bewohnern der Region. Die Hungerpolitik der Besatzer schloss den millionenfachen Tod der Bewohner mit ein. „Zwei ideologische Intentionen lagen dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion zugrunde: die Gewinnung von Lebensraum und der Hass gegen die Juden“, schreibt Wolfgang Benz. Der Potsdamer Historiker Ernst Piper nennt in dem Band als Ziel für die besetzten Ostgebiete: "Landgewinnung, als Laboratorium für eine Reagriarisierung und eine rassistisch motivierte ethnische Flurbereinigung allergrößten Ausmaßes." Er verweist darauf, dass der "Generalplan Ost" die "Beseitigung" von 31 Millionen Slawen vorsah, im Protokoll der Wannseekonferenz war von elf Millionen zu vernichtenden Juden die Rede.
Uwe Danker, der zusammen mit Sebastian Lehmann und Robert Bohn den Band in Folge einer internationalen Historikertagung herausgegebenen hat, nennt eine monströse Zahl, die die Dimension des Verbrechens in „Ostland“ deutlich macht. Allein im ersten halben Jahr nach dem Überfall wurde in einer ersten Mordwelle auf dem Gebiet von Einsatzkommandos des SD, deutschen Polizeieinheiten und einheimischen Kollaborateuren rund 330 000 Juden ermordet.
50 000 deutsche Juden kamen in „Ostland“ zu Tode, viele direkt vor den Toren der Stadt Riga. In der Stadt, die Danker „Subzentrale des Holocausts“ nennt, wurden unzählige Juden erschossen und in Gräben verscharrt. Das Mordgeschehen habe mehr oder weniger öffentlich, teilweise sogar in Stadtparks und Naherholungsgebieten stattgefunden. Vom 29. November bis zum 9. Dezember 1941 wurden rund 38 000 Juden im Wald von Rumbula und auf dem Weg dorthin ermordet, 10 000 davon waren Juden aus Deutschland, Österreich sowie Böhmen und Mähren, die mit Güterzügen nach Riga deportiert worden waren – viele davon auch aus Berlin. Trotz des eiskalten Wetters mussten sich die Menschen entkleiden und wurden dann vor Gruben, die zu Massengräbern wurden, erschossen. Lediglich zwei Menschen überlebten das Massaker.
Neben den Massenmorden an den Juden war das Reichskommissariat "Ostland" auch Schauplatz für verbissen ausgetragene Rivalitäten zwischen einzelnen, miteinander konkurrierenden Fraktionen innerhalb der deutschen Zivilverwaltung, der Wehrmachtsverwaltung und Himmlers SS-Apparat, wie Sebastian Lehmann schreibt. Unterschiedliche Ausformungen deutscher Besatzungspolitik und -praxis, die von Historikern für die These einer sich aufwiegelnden Radikalisierung angeführt werden, konnte man exemplarisch auch in "Ostland" sehen. Rivalitäten entwickelten sich um die Ausbeutung der materiellen und menschlichen „Ressourcen“ für die deutsche Kriegführung, um „Arisierungen“, „Umvolkungen“ und Requirierungen und nicht zuletzt auch um Kollaboration. Der Potsdamer Historiker Piper widmet sich in dem Buch dem Spannungsfeld von Unterwerfung und Vernichtung. Auch Piper kommt zu dem Ergebnis, dass das Zusammenspiel Wehrmacht, Zivilverwaltung, SS und Gestapo zur mörderischen Brutalität im Besatzungsgebiet führte: einerseits durchgesetzt durch ein zielgenaues Mordprogramm, im folgenden dann durch Ausbeutung mittels Zwangsarbeit der noch lebende Juden.
Das Militärgeschichtliche Forschungsamt (MGFA) der Bundeswehr habe bereits in den 70er Jahren den verbrecherischen Charakter des Feldzugs „Barbarossa“, dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941, thematisiert. Das betonte Hans-Hubertus Mack, Amtschef des Forschungsamtes, das heute seinen Sitz in Potsdam hat, bei der Vorstellung des Buchs. Damals sei man für diesen Aufarbeitungswillen vielfach kritisiert worden.
Heute ist es, nicht zuletzt auch durch die Wehrmachtsausstellung, unter Historikern unumstritten, dass auch die Wehrmacht an dem Menschheitsverbrechen des Holocausts ihren Anteil hatte. Dass dies teilweise auch auf Personen der Zivilverwaltung zutraf, die hinter der Wehrmacht und den mordenden SS-Einheiten herkamen, um in dem 1941 neu gebildeten Reichskommissariat Ostland einen Verwaltungsbezirk einzurichten, gehört zu den weniger bekannten Facetten des Vernichtungsfeldzuges. Das Reichskommissariat „Ostland“, das auf dem Gebiet der eroberten baltischen Staaten Litauen, Lettland und Estland und Teilen Weißrusslands gebildet worden war, wurde in der mehr als dreijährigen Zeit seines Bestehens von 1941 bis 1944 zu einem der Haupttatorte des Holocausts.
Die in der Nachkriegszeit beständig kolportierte Legende von der sauberen Zivilverwaltung, die von dem Morden der Einsatzkräfte nichts gewusst hätte, widerlegt das Buch Seite für Seite. Dafür setzt sich Uwe Danker etwa mit der Person des Reichskommissars Ostland, dem ehemaligen Gauleiter von Schleswig-Holstein, Hinrich Lohse, auseinander. An seinem Beispiel zeichnet Danker die Haltung der Zivilbeamten nach. Nachdem Lohse zu Anfang seiner Amtszeit bei einem Massaker anwesend war, bei dem auch Frauen und schreiende Kleinkinder erschossen wurden, versuchte der strenge Antisemit die „wilden Judenexekutionen“ in Libau zu unterbinden. Weil sie in „der Art ihrer Durchführung nicht zu verantworten“ seien, wie er an das Ostministerium schrieb. „Selbstverständlich“, schrieb er aber weiter, „ist die Reinigung des Ostlandes von Juden eine vordringliche Aufgabe“. Es gehe aber darum, die „Lösung“ mit den Notwendigkeiten der Kriegswirtschaft in Einklang zu bringen. Gemeint waren jüdische Facharbeiter, die für die Rüstungsindustrie nützlich waren.
„In der Tat begründeten Abscheu vor Bestialität oder gar moralische Skrupel nur zu einem geringen Teil das Einschreiten der Zivilverwalter“, schreibt der Historiker Sebastian Lehmann in der Publikation. Wolfgang Benz vermerkt zwar, dass es auch Rettungsversuche von deutscher Seite gab. Gemessen am Ausmaß des Völkermords blieben dies allerdings Einzelfälle. Der deutsche Feldwebel Anton Schmid bezahlte seine Rettungsaktionen in Wilna mit dem Tod.
Danker verweist auch darauf, dass die anfänglich abgestoßene Reaktion von Hinrich Lohse nicht exemplarisch sei. Während der Reichskommissar verstört ersten Tötungsaktionen beiwohnte, seien andere weiter gegangen. Sie hätten selbst zur Waffe gegriffen, berichtet der Historiker. „Und keiner der vielen Zivilbeamten reiste ab“, so Danker. Er spricht von einer „gefühlten Tatferne“. Danker fand ein immer wiederkehrendes Verhaltensmuster bei den Zivilverwaltern. Erst habe man halbherzig interveniert, dann aber, nachdem die Aktionen von Berlin sanktioniert wurden, seien die Beamten geradezu in Übereifer verfallen. Man holte sich in Berlin sozusagen den Freibrief: So beantwortete das NS-Justizministerium eine Intervention damit, dass die Vorgänge nicht justiziabel seien, sondern eher metajuristischen Charakter hätten. Spätestens ab September 1942, als Hitler die Deportation der deutschen Juden nach dem Osten befohlen hatte, wurde der Judenmord als „Führerwille“ aufgefasst. „Es gab dann keine Einwände mehr aus dem Reichskommissariat Ostland“, so Danker. Lohse beschränkte sich fortan auf den Hinweis, dass „die Durchführung von Exekutionen insbesondere bei der Liquidierung von Juden“ die Aufgabe der Sicherheitspolizei sei. „Nicht unterbinden, sondern Raushalten lautet die Botschaft“, so Danker. Sein Fazit: „Mit der Umsetzung der jüdischen Zwangsarbeit und den tödlichen Selektionen wurden Beamte der Zivilverwaltung zu Herren über Leben und Tod. Mitvollstrecker des Völkermords waren sie alle, allerdings mit individuellem Handlungsspielraum.“
Nach Kriegsende rückte das Reichskommissariat als Gegenstand von Erinnerung, retrospektiver Konstruktion und Narration durch Täter und Opfer, Juristen und Historiker in den Blickpunkt der Öffentlichkeit. Auch auf dieses Kapitel geht der Band umfassend ein. Hinrich Lohse gab sich im Nürnberger Verfahren im Vergleich zu anderen Nazis erstaunlich ehrlich. Später aber, mit zunehmendem Alter, begann auch er mit dem Vertuschen.
„Reichskommissariat Ostland. Tatort und Erinnerungsobjekt“, Sebastian Lehmann, Robert Bohn und Uwe Danker (Hrsg.), Schöningh Verlag 2012
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