
© Andreas Klaer
Landeshauptstadt: Tanzen in der Tischlerei
Vor 20 Jahren eröffnete Marita Erxleben ein Ballettstudio. Für die leidenschaftliche Choreografin und Pädagogin ging damals ein Traum in Erfüllung. Seitdem tanzten dort Tausende Potsdamer
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Enge Flure, steile, knarzende Treppen über drei Etagen: Ein Ballettstudio stellt man sich gemeinhin anders vor. Und doch wird in dem Haus in einem Hinterhof in Alt Nowawes seit genau 20 Jahren getanzt, Ballett, Hiphop, Breakdance, Jazzdance und Kindertanz, wird Yoga und Pilates unterrichtet. Hunderte Kinder trappeln am Tag durch das Haus, Eltern und Geschwister sitzen hinter den Spiegelwänden und schauen beim Training zu. Seit1994 gehört dieses Haus unmittelbar zur Tanzszene in Potsdam, zurzeit gehen hier etwa 800 Kinder, Jugendliche und Erwachsene regelmäßig ein und aus.
Im Ballettstudio Marita Erxleben wurde am gestrigen Mittwoch das Jubiläum gefeiert, die Mitarbeiter und Honorarkräfte überraschten ihre Chefin mit einem kleinen Empfang. Viel Zeit zum Feiern hatte Marita Erxleben trotzdem nicht. Der Unterricht geht schließlich weiter und sie musste sich auf ihre Reise nach New York vorbereiten, wo sie für die kommenden zwei Wochen auftanken will, Ballett- und Musicalaufführungen besucht, ins Theater geht und selbst wieder Unterricht nimmt. „Ich brauche das regelmäßig, ich hasse Stillstand“, sagt die Frau, der man das sofort abnimmt.
Stillstand und Marita Erxleben, das passt einfach nicht zusammen. Ihre Kollegen nennen sie „Orkan“, erzählt sie. Weil sie ständig unterwegs ist, alles aufwirbelt. Marita Erxleben sagt, sie arbeitet gern im Team, übernimmt aber ebenso gern dabei die Führung. Zielstrebig und ehrgeizig ist sie, sagt sie von sich selbst, sagen auch ihre Mitarbeiter.
„Ich wollte dieses Haus, das Studio, unbedingt, sonst wäre es nie was geworden“, sagt Marita Erxleben. Mit all dem Wissen um wirtschaftliche Risiken würde sie es heute womöglich nicht mehr machen. Doch sie brauchte 1994 dringend neue und größere Räumlichkeiten, ein bis dahin angemieteter Raum in einer Betriebskita war längst zu klein für all die Kurse, die sie anbot. Also bewarb sie sich um die ehemalige Tischlerei der Defa Dokfilmstudios, baute dort drei Ballettsäle ein, rüstete Schwingboden nach, Umkleiden, sanitäre Anlagen. Sie erinnert sich an den Schock, als der vermeintliche Schornstein im Erdgeschoss sich als tragender Pfeiler entpuppte. Nur mit viel Mühe konnte der aus dem Ballettsaal, wo er natürlich störte, entfernt werden.
Marita Erxleben, geboren in Potsdam, lernte zunächst den Beruf Kankenschwester und begann schon dort, in der Klinik, Tanzkurse für das Personal im Schichtdienst zu organisieren. „Bei mir müssen immer alle tanzen“, sagt sie und lächelt verschmitzt. Seit ihrem sechsten Lebensjahr tanzt sie selbst, fiel irgendwann den DDR-Kulturkadern auf und wurde nach Berlin zu einer Schule für Tanzpädagogen delegiert. Sie machte dort ihren Abschluss, begann dennoch ein Medizinstudium. Tanz-Therapeutin, das hätte sie sich auch vorstellen können. Doch eines Tages stellte sie sich die Frage: das Medizinstudium beenden – oder sich auf den Tanz konzentrieren?
Sie entschied sich für das Tanzen, und bald reichte ihr nicht, was sie konnte. Die Wende kam und Marita Erxleben ging nach New York, besuchte die Tanzschule von Alvin Ailey. „Ich hab alles aufgesogen wie ein Schwamm.“ Die Metropole an der US-Ostküste blieb ihr künsterlisches Zentrum, dort findet sie Inspiration, neue Impulse – gut für Zeiten, wenn es mal nicht so läuft. „Ich hab auch nachdenkliche Phasen“, sagt Marita Erxleben. Die Schule mit mittlerweile drei Standorten, aufgebaut ohne Fördermittel, um unabhängig zu bleiben, ist kein Selbstläufer. „Kinder müssen immer wieder motiviert werden, und das ist schwer“, sagt die Tanzpädagogin. „Es ist deshalb essenziell, dass ich mich selbst auf den Unterricht freue. Sonst wird es gefährlich – und auch unfair gegenüber den Kindern.“ Ihr nächstes Projekt, das ihr bereits im Kopf herumschwirrt, ist ein Crossover-Stück mit Ballett und Modern Dance: „Ein Stück, in das die Jugendlichen freiwillig gehen“, sagt sie lachend.
Längst unterrichtet sie nicht mehr nur sondern übernimmt auch Choreografie- und Regieaufträge, seit 1998 arbeitet sie regelmäßig für das Hans Otto Theater. Gerade Kinderstücke liegen ihr, sie selbst hat zwei Söhne, die ihr die Tür in die Welt der Kinder öffneten. Und die sie sensibilisierten, reine Jungs-Kurse anzubieten.
Die jüngsten Kursteilnehmer im Studio können grad laufen; in der Gruppe ab Vorschulteralter boomt das Hobby Tanzen, dann gibt es manchmal Wartelisten für einzelne Kurse. Der Höhepunkt für alle Ballettschüler ist die jährliche gemeinsame Aufführung auf der großen Bühne im Hans Otto Theater. Marita Erxleben nimmt sich dafür ein Märchen, eine Geschichte, und schreibt sie um für Ballett, lässt Musik komponieren, Kostüme entwerfen. Im Laufe der Jahre wurden es immer mehr Darsteller und Mitwirkende, im vergangenen Jahr waren es 750, aufgeteilt auf fünf Besetzungen. Möglich ist das nur mit einem guten Logistikteam, sagt Marita Erxleben lachend. Immer ging alles gut, kein Kind sei bisher hinter der Bühne verloren gegangen. Einmal allerdings verspätete sich der Flieger des Hauptdarstellers Hawk, Marita Erxleben telefonierte Ersatz herbei und erklärte ihm das Stück in 30 Minuten hinter der Bühne. „In solchen Momenten bin ich ganz klar, ganz fokussiert, dann funktioniere ich – ohne Panik“, sagt sie. Hawk schaffte es dann in letzter Sekunde direkt auf die Bühne: „Seine Partnerin wusste nicht, wer da jetzt gleich rauskommt“. Heute, sagt die Chorografin, hat sie eine Feuerwehrliste für solche Notfälle.
Alle zu zählen, die je im Ballettstudio Unterricht hatten, das sei unmöglich, heißt es. Es müssen Tausende sein. Einige entschieden sich anschließend für einen Beruf auf dem Gebiet Tanz, Chorografie oder Tanzpädagogik. Marita Erxleben ist es dabei immer wichtig, allen Kindern, die tanzen wollen, das zu ermöglichen. Doch nicht jede Familie könne sich Unterrichtsgebühren leisten. „Wenn wir merken, es gibt bei einem Schüler finanzielle Engpässe, dann finden wir eine Lösung – für die, die es wirklich wollen“, sagt die Chefin. Aus dem Kiez in Babelsberg, wo sie sich wohlfühlt, will sie nicht mehr weg, auch wenn das Haus an manchen Nachmittagen aus allen Nähten zu platzen scheint. Die Schule müsse nicht mehr unbedingt wachsen, Qualität zu halten sei ihr wichtiger. Zusätzlich zum Studio würde sie allerdings gern eine große Halle anmieten, für Proben und Aufführungen. Doch das scheint in Babelsberg Mangelware zu sein. In der Vergangenheit mieteten deshalb sogar Schauspieler und Künstler die Räume im Studio, um sich dort auf Dreharbeiten vorzubereiten. Auch Sarah Connor und Kevin Spacey haben dort schon getanzt.
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