Von Guido Berg: Tränen an Havel und Nil
Eine Radliteratour auf den Spuren der großen Autoren führt an Orte gelungener wie unterlassener Gedenkkultur
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Sie waren alle da. Die großen Schreiber, Dichter, Literaten, fast jeder von ihnen musste einmal in Potsdam sein, um hier zu leben und zu schreiben, oder wenigstens, um einen Blick aufs Schloss Sanssouci zu werfen. Auf dem Weg zwischen Weimar und Berlin liegt unvermeidlich Potsdam, so weilten selbst die Dichterfürsten Goethe und Schiller in der Stadt. Aber auch kleinere Lichter kamen, bisweilen glühte ihr Talent derart auf, dass sie in Potsdam Literaturgeschichte schrieben. Nicht allen jedoch gefiel es in der Garnisonsstadt. Und nicht zu allen Zeiten gefiel es den Potsdamern, sich angemessen an ihre großen Geister zu erinnern.
Geschwister-Scholl-Straße, Eingang zum Schlosspark Sanssouci: Die „Literatour“ beginnt mit einer doppelten Enttäuschung – für den Radfahrer, dessen Gefährt von der Schlösserstiftung nicht gern gesehen wird, aber auch für den Literaturfreund. Der erste muss absteigen und sein Fahrrad zurücklassen, um zügig zweitem hinterher zu eilen, der schon frohen Schrittes dem Schloss Charlottenhof entgegenstrebt. Im nahen Dichterhain schillert und goethet es; marmorne Dichterbüsten thronen auf Säulen. Aber der Fan papierner Überlieferungen will den Ort sehen, wo der vielleicht berühmteste Preuße an seinem „Kosmos“ schrieb: Alexander von Humboldt. Doch die allzu genaue Vermessung der Welt führt auch zu ihrer Entzauberung. Während die Macher der Internet-Seite Literaturport.de noch berichten, Humboldt habe in diesem malerischen Schinkel-Schlösschen den Hauptteil des „Kosmos“ geschrieben – eine tolle Vorstellung, denn das „Zeltzimmer“ darin scheint für den Chimborazo-Bezwinger wie gemacht (ist es aber nicht) – bringen übereifrige PNN-Recherchen die Ernüchterung: Es existierten nicht nur keine Nachweise für Humboldts Schriftstellerei auf Schloss Charlottenhof; mehr noch, im Zeltzimmer, in den 1970er Jahren noch als „Humboldt-Zimmer“ vermarktet, steht nur ein kleiner Reiseschreibtisch, sagt Kastellanin Ulrike Zumpe von der Schlösserstiftung, „und da stand auch nie etwas anderes“. Auf dem winzigen Möbel hätte Humboldt nie seinen fünfbändigen „Entwurf einer physischen Weltbeschreibung“ verfassen können. Wirklich nachweisen lasse sich dagegen, dass Humboldt zeitweise ein Zimmer im Hofgärtnerhaus der nahen Römischen Bäder bewohnte. Wenigstens das!
Nun zurück zum Rad und Fahrer wie Literaturfreund in einer Person und auf einem Sattel vereint. Über die Geschwister-Scholl-Straße bis zum Schafgraben, dort rechts rein, das Fließ entlang bis zu einer kleinen Brücke, nach links über diese hinweg und auf zum Bahnhof Charlottenhof. Auf der Zeppelinstraße in Richtung Innenstadt geht es dem eigentlichen Knaller dieser Tour entgegen – Goethe aß und Schiller schlief in Potsdam, doch er, Gotthold Ephraim Lessing, schrieb. In der Zeppelinstraße 167 – ausgerechnet in Potsdam – verfasste er das erste bürgerliche Trauerspiel deutscher Zunge überhaupt: „Miss Sara Sampson“. Applaus! Bislang waren die Helden adlig. Nicht so bei Lessing, er lässt Bürger Tragödien erleben. Angesichts der „französischen weinerlichen Dramen“, behauptete Lessing gegenüber seinem Freund Mendelssohn, es sei keine Kunst, „alte Weiber zum Heulen zu bringen“. Sechs Wochen brauche er, dann bringe er so ein Stück. Ende Januar bis März 1755 schrieb er im Gartenhaus des Sommerschlosses Marquis d’Argens’ an dem genialen Wurf. In Frankfurt (Oder) uraufgeführt, wurde das Werk „ein großer Weinerfolg“.
An der Zeppelinstraße 167 erneut schizoide Anfälle: Der Literaturfreund stürzt vom Rad, hält die Hände vors Gesicht und wird nicht wieder, während der Radler mit dem schönen Uferradweg an der Neustädter Havelbucht liebäugelt. Es ist weg! Anstelle des „Marquisats“, in dem Lessing Bürger zu Helden machte, in dem kein geringerer als Voltaire an seinem „Jahrhundert Ludwigs XIV.“ schrieb und den „Antimachiavell“ Friedrichs des Großen überarbeitete, steht heute eine Eiger-Nordwand aus Plattenbauten. Einzig eine riesige Platane zwischen Platte und Ufer könnte schon vor 204 Jahren hier gewachsen sein. Ausgerechnet ein Baum, Rohstoff für Papier, spendet dem Literaturfreund Trost und dem Radler Schatten.
Auf zur Dortustraße, via Moschee und Wall am Kiez. Auf der Durchreise von und nach Berlin übernachtete der große Friedrich Schiller zwei Mal in Potsdam, 1804, als ihm Weimar zu klein erschien. „Abends in der Comödie Fanchon. Nachts bei Maßenbach“ heißt es für den 14. Mai 1804 in Schillers Tagebuch. Der „Räuber“-Autor übernachtete bei seinem Freund Christian von Massenbach – doch ach, anstelle des dreistöckigen Massenbachschen Hauses in der Dortustraße 33 steht heute der 1907 erbaute Rechnungshof.
Der Tragödie dritter Teil: In der Waisenstraße, heute Dortustraße 68, wohnte dereinst der sich in Potsdam unwohl fühlende Theodor Storm, später Autor des „Schimmelreiter“. Noch im August 1989 wurde das Haus abgerissen.
Über die Breite Straße geht es weiter zu Altem und Neuem Markt. Wenn sie da waren, die Literaten, dann kamen sie natürlich in die Potsdamer Mitte. Am 17. Mai 1778 ist es soweit, der Literaturgott selbst stieg von seiner Weimarer Wolke aus kommend, in Potsdam ab. Irgendwo hier rastete Goethe, je nach Quelle im Restaurant „Prinz von Preußen“, oder im Plögerschen Gasthof in der Schlossstraße. Und welch ein Widerspruch, die DDR wollte Goethes faustisches Erbe antreten und den „faulen Pfuhl“ abziehen, was sie aber nicht daran hinderte, den im Krieg beschädigten Plögerschen Gasthof 1958 abzureißen.
Endlich aber Lichtblicke. Theodor Fontane übernachtete mit hoher Wahrscheinlichkeit bei seinem Freund Karl Zöllner am Neuen Markt 11 – und das Haus steht noch! Überhaupt, der Neue Markt: Im Haus Nr. 8 wohnte der Verleger Peter Suhrkamp nach seiner Entlassung aus dem KZ Sachsenhausen. Heute sind am Neuen Markt mehrere literaturaffine Institutionen ansässig, darunter die Leibniz-Edition. Eine Kurve weiter, Friedrich-Ebert-Straße 5, eine weitere Entdeckung: Als wäre Potsdam ein Klein-Paris schrieb Heinrich Heine, eigentlich Harry Heine, hier zwischen April und Juli 1829 am dritten Teil seiner Reisebilder. Heine: „Dieselbe Sonne, die im Niltal Ägyptens Krokodileneier ausbrütet, kann zugleich zu Potsdam an der Havel die Liebessaat in einem jungen Herzen zur Vollreife bringen – dann gibt es Tränen in Ägypten und Potsdam.“ Auch dieses Haus ist noch da und seine Fassade ziert sogar eine Gedenkplakette.
Die findet sich auch an der alten Stadtschule, Friedrich-Ebert-Straße 17, für Heinrich von Kleist. 1798 und 1799 bereitete sich der Autor des „Käthchens von Heilbronn“ hier auf sein Studium an der Viadrina in Frankfurt (Oder) vor. In Potsdam trat er 1792 dem Militär bei, in Potsdam entschied er sich im März 1799, den Militärdienst zu quittieren – um Dramatiker zu werden.
Auf zum Endspurt: Wenn eine Literatour von Goethe bis in die Gegenwart reichen soll, dann kann das Ziel nur die Villa Quandt in der Großen Weinmeisterstraße sein, Sitz des Fontane-Archivs und des Brandenburgischen Literaturbüros. Es geht über die Gutenberstraße zum Bassinplatz, wo ein Fontane-Denkmal steht. Dann weiter über die Benkertstraße, im Haus Nr. 15 wohnte zeitweise Theodor Storm. Die nächste Station ist die Birkenstraße 1, wo Reinhold Schneider wohnte, Autor von „Die Hohenzollern.Tragik und Königtum“. Eine Tafel erinnert daran, dass Schneider oft Besuch bekam von Jochen Klepper, der hier Teile seines Romans „Der Vater“ schrieb. Aus Angst vor der Deportation seiner jüdischen Frau nahm sich die Familie 1942 das Leben. Nachdenklichkeit auch gegen Ende der Literatour: Neben der Villa Quandt steht das Haus, in dem Johannes Lepsius wirkte, der Warner vor dem Völkermord an den Armeniern.
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