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Landeshauptstadt: Trotzige Tanznummer

Von dem schweren Anfang des fabrik/Offizze-Projekts „Tanz in Schulen“: Ein halbes Jahr Zeit, die Unlust zu zähmen

Ein Sportschuh fliegt in die leere Turnhalle. Ihm folgt Philipp, lässig im Halb- Schuh-halb-Socken-Gang. Lisa und Mercedes schicken ihr Gekicher voraus und begrüßen Bauchfrei-Eyleen mit Küsschen rechts und Küsschen links. Der graue Nachmittag schickt sein fahles Licht durch die Glasbausteinwand. Die Hälfte der Klasse hat es vorgezogen, nach der Freistunde nicht mehr wieder zu kommen. Unter donnerndem Wiederhall stürmt jetzt noch eine Hand voll Schüler aus der Umkleidekabine in die Halle. Bewegungsdrang nach stundenlangem Stillsitzen.

Das sollen sie aber jetzt schon wieder und zuhören, was Ludovic Fourest ihnen zu sagen hat. Der Tanzlehrer aus Frankreich rutscht auf zwei Paar Wollsocken vor der sitzenden Achtklässlerreihe hin und her. Als er irgendwas von „Tanz“ und „Aufführung“ erzählt, seufzen und stöhnen die Teenager. Die Jungs sitzen breitbeinig auf den schmalen Holzbänken. Die Lustlosigkeit lässt Schultern und Köpfe hängen. Sie starren auf die glatten Holzbohlen auf dem Boden vor ihnen und hoffen auf ein Loch, das sich auftut und sie einfach verschwinden lässt.

Das Dutzend wenig Tanzbegeisterter ist Teil eines großen Projekts, bei dem „fabrik“ und Offizze vom Waschhaus über 220 Pennäler – vom Erstklässler bis zum Abiturienten – in Bewegung bringen wollen. Darunter seien auch Teilnehmer der Evangelischen Grundschule und der Lenné-Gesamtschule. Es ginge um Erfahrungen, sagt Ludovic Fourest, der schon seit einigen Jahren in der „fabrik“ arbeitet. So sollen die Teilnehmer Körpergefühl und Kreativität erfahren und auch echten Künstlern begegnen können. Das werde Horizonte erweitern. Davon ist der Tanzlehrer überzeugt. Die Oberschüler der Benzschule sind es nicht.

In Frankreich, sagt der Mann mit den ungewöhnlich blauen Augen, gebe es eine größere Akzeptanz für diese Kunstform – auch unter den Kids. Einige Schulen hätten sogar das Fach Tanz eingeführt, weil man erkannt habe, dass diese Art des Bewegens den Kopf besonders öffne. Habe man danach Mathe, passten ein paar mehr Formeln hinein, lacht er.

„Lauft kreuz und quer durch die Halle und wenn ihr jemanden trefft, stoppt und sagt Hallo“, fordert Fourest die Schülerinnen und Schüler auf, die jetzt eigentlich Turnunterricht hätten. Danach setzt der Franzose Grenzen, nimmt den Tobenden immer mehr Raum. „Jetzt dürft ihr euch nur noch in diesem Teil bewegen“, markiert er mit ausgestreckten Armen die Trennlinie. Der Platz schrumpft auf ein Viertel der Turnhallenfläche. Unbemerkt machen die Tanzmuffel abgehakte Ausweichmanöver, die ein bisschen an Breakdance erinnern. „Kann ich mal aufs Klo“, fragt Eyleen. Ihr Mitschüler Timo schaut alle fünf Minuten auf die Uhr. So ganz wollen sich die Achtklässler nicht auf das Experiment einlassen. Der Tanzlehrer bleibt davon und auch von den nörgelnden halblauten Zwischenbemerkungen unberührt. „Da höre ich nicht hin“, sagt Fourest, der schon oft mit Kindern und Jugendlichen gearbeitet und dabei die Erfahrungen gemacht hat, dass „die Schwierigsten unter ihnen auch die Kreativsten sind“. In den Benzschülern schlummert also Potenzial, das aber im Tiefschlaf zu sein scheint. Der Franzose, der solche Veranstaltungen eigentlich gemeinsam mit seiner Frau gestaltet, die aber wegen Krankheit an diesem Tag nicht dabei ist, sucht einen Partner. Ein Junge meldet sich tatsächlich freiwillig. Fourest lehnt sich kraftvoll mit der Schulter gegen die Schulter seines Nachbarn. Seine Füße rutschen weg. „Entschuldigung, ich ziehe jetzt die Strümpfe aus“, erklärt er mit französischem Akzent. Lisa und Mercedes kichern. Gleiche Übung noch mal. Fourest und Partner üben den Schulterschluss, während zwischen den geschlossenen Fußpaaren ein Meter Zwischenraum ist. Die Körper biegen sich zu einem umgekehrten V. Die anderen eifern nach.

„Tanz in Schulen“ hat ein prominentes Vorbild. Der Engländer Royston Maldoom – berühmt durch den Film „Rhythm is it“ – war erst im vergangenen Jahr in Potsdam und hat in nur drei Wochen ein choreografisches Spektakel auf 200 Beine gestellt. Im Unterschied zu Maldoom arbeiteten er und seine Kollegen aber nicht mit Autorität, sagt Ludovic Fourest. Die Choreografie werde nicht von den Künstlern, sondern von den Schülern bestimmt. Über Bewegungsübungen wolle man sich den Weg zu den Teilnehmern bahnen, sie anstecken. Für den kreativen Prozess bis zur Aufführung habe man sich deshalb auch ein halbes Jahr Zeit genommen, sagt der Tanzlehrer.

Wie aus Laufen, Stoppen und Hallo-Sagen ein gruppendynamischer Bewegungsablauf werden soll, wird erst im nächsten Schritt deutlich. Jetzt gibt Fourest doch ein paar Schritte vor, wippt mit dem Kopf, wirft sich kunstvoll auf den gebohnerten Boden. Das nach zu machen, scheint nicht einfach. Trotz französischen Raps aus dem Ghettoblaster bleibt das Rhythmusgefühl aus. Die Mädchen mimen spöttisch Prima Ballerinas. Nur einige der Jungs bewegen sich überhaupt, die anderen haben die Hände in ihren tiefhängenden Jogginghosentaschen und gucken skeptisch zu. Als die Stunde vorbei ist, wirken die meisten erlöst. „Bloß nicht noch mal“, sagt ein Schüler, bevor er albern hüpfend die Turnhalle verlässt. Für den Außenstehenden ist kaum zu glauben, dass aus dieser Mischung aus Unlust und Trotz eine aufführungsreife Tanznummer werden soll. Es fehlt der Blick. „Ich habe hier viele schöne und spontane Sachen gesehen“, sagt Fourest mit einem Optimismus, der Widerspruch unmöglich macht. Im Juni seien die Welten – Schulalltag und Künstlerleben – so stark miteinander verwoben, dass beide voneinander profitierten, sagt er. Offensichtlich hat er das Wunder schon einmal vollbracht.

Nicola Klusemann

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