Landeshauptstadt: Über das doppelte Zusammenwachsen
Bundesminister Wolfgang Tiefensee sprach mit Potsdamern über die Wendezeit und die deutsche Einheit
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Wolfgang Tiefensees Appell an die Potsdamer war zurückblickend und zukunftsweisend: „Feiern sie 2009 das Jubiläum der Deutschen Einheit und schöpfen sie aus den positiven Entwicklungen die Kraft für die Dinge, die wir in der Zukunft noch verbessern müssen.“ Der Bundesbeauftragte für die Neuen Länder, der am Donnerstagabend Platz im Filmmuseum nahm, um mit Potsdamern ins Gespräch zu kommen, zeigte sich keineswegs ausschließlich euphorisch über die Entwicklung der vergangenen 20 Jahre seit dem Mauerfall. Schon zu Beginn sagte der SPD-Politiker: „Die Feierlichkeiten zur deutschen Einheit dürfen nicht davon ablenken, was alles noch gemacht werden muss.“ Tiefensee fährt mit der Diskussionsveranstaltung „Bürgerdialog“ durch alle ostdeutschen Landeshauptstädte, um mit Einwohnern über die Wende und die Entwicklung danach zu reden.
Gemeinsam mit drei zufällig ausgewählten Potsdamern, dem Buchhändler Carsten Wist, der Geschäftsführerin der Arbeiterwohlfahrt, Angela Basekow, und Architekt Christian Wendland diskutierte Tiefensee über Hoffnungen zur Wendezeit und Wünsche von heute. Gemeinsam mit Wist erinnerte Tiefensee an die Situation vor der Wende. Der Potsdamer Buchhändler sagte offen, „die Wende war eine Wiedergeburt für mich, entweder hätte ich mich in der DDR totgetrunken oder wäre anders untergegangen“. Tiefensee bestätigte die widrigen Lebensumstände: „Ich habe gelitten, in einem Land zu leben, das von Angst geprägt war, das einem die Welt versperrt hat und in dem man nicht alles lesen konnte.“ Die Angst, so der Bundesminister, habe sich seiner Meinung nach jedoch mittlerweile verlagert im Osten: „Früher hatte man Angst vor denen da oben“, sagte er, „heute herrscht Angst, zu denen da unten zu gehören“. Es sei bitter, „dass wir uns immer noch mit dem Problem der besonders hohen Arbeitslosigkeit im Osten beschäftigen müssen“.
Die soziale Frage: das Stichwort für die Awo-Geschäftsführerin Angela Basekow, die vor allem auf die Armut von Kindern in Deutschland aufmerksam machen wollte: „Nach der Wende hatten wir das Gefühl, etwas bewegen und verändern zu können. Jetzt sind wir unzufrieden“, so die Awo-Chefin, die in ihren Einrichtungen immer öfter arme Kinder antreffe. „Jedes vierte Kind in Deutschland ist arm oder von Armut bedroht. Unsere Einwände und Forderungen, gerade diese Klientel zu unterstützen, werden nicht gehört“, so Basekow. Tiefensee bestritt das Problem nicht, machte aber auch deutlich, dass der staatliche Haushalt „endlich“ sei. „Das Geld, dass sie arbeitslosen Familien mit Kindern geben wollen, muss zuvor verdient werden“, so Tiefensee, der um Verständnis warb, dass Kommunen und Länder „nicht alles sofort finanzieren können“.
Der SPD-Politiker und einstige Oberbürgermeister von Leipzig zeigte sich im gesamten Gesprächsverlauf als natürlicher Pragmatiker und Realist. Wie auch bei der Haltung zur Linkspartei, die aus der einstigen SED erwachsen ist. Während auf kommunaler Ebene und stellenweise auch auf Landesebene eine Zusammenarbeit bei Sachfragen durchaus möglich ist, schließt sich für Tiefensee eine Koalition im Bund bislang völlig aus, „da sind sich SPD und Linkspartei, insbesondere in Fragen zur Außen- und Sicherheitspolitik, bei Bündnissen wie der Nato oder der Europäischen Union zu verschieden“, begründete Tiefensee seine Haltung.
Der Beauftragte für die Neuen Bundesländer offenbarte sich des Weiteren als ein Verfechter des Bewahrens, „wenn es denn bewahrenswert ist“. Im Gespräch mit dem Architekten Christian Wendland erklärte er: „Wir müssen mit unserem baulichen Erbe verantwortungsvoll umgehen.“ Viele alte Gebäude seien identitätsstiftend für die Orte, wie das in Potsdam auch deutlich werde.
Noch zwei Stunden nach dem Ende der offiziellen Diskussion stand Wolfgang Tiefensee im Foyer des Filmmuseums mit Potsdamern zusammen, diskutierte über Ungerechtigkeiten bei der Anerkennung von Ost-Betriebsrenten, über soziale und infrastrukturelle Probleme, die aus den Wendewirren entstanden sind. „Noch sind wir lange nicht fertig mit der Einheit Deutschlands“, so der Beauftragte der Bundesregierung für die Neuen Bundesländer abschließend. Entscheidend sei, dass Ost und West „nicht nur zusammenwachsen, sondern auch zusammen wachsen, also sich gemeinsam entwickeln.“ Kay Grimmer
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