
© Kitty Kleist-Heinrich
Von Erhart Hohenstein: Und die Grenzer schweigen
Wie brachte das SED-Regime junge Männer so weit, auf Flüchtlinge zu schießen?
Stand:
Ein paar Tage zuvor hätten sie einen „Grenzdurchbruch“ noch mit der Waffe verhindert, am 10. November standen die Grenzwächter auf der soeben geöffneten Glienicker Brücke Spalier für den Menschenstrom, der sich nach Berlin wälzte. Mit verlegenem Lächeln ließen sie sich Schulterklopfen gefallen, sogar Blumen wurden ihnen gereicht. Die meisten von ihnen waren wohl froh, dass das Grenzsicherungssystem der DDR zerbrochen war und sie keine Gewaltakte mehr zu verantworten haben würden. 13 Todesopfer hatte die Mauer – dies ist der derzeitige Stand der Erkenntnis – bis dahin allein in Potsdam und dem Umland gekostet.
Einige Grenzer mit keineswegs zackigem, sondern mit unsicher und ratlos wirkendem Auftreten vermitteln auch die in der Ausstellung „Mauerblicke“ im Schloss Babelsberg gezeigten Fotos, die der Potsdamer Maler Peter Rohn im Wendejahr 1989 aufgenommen hat. Noch bis zum 31. Oktober sind sie dort zu sehen. Im Vortragsprogramm zu dieser Exposition ging der Berliner Historiker Gerhard Stälter der Frage nach, wie es dem SED-Regime gelingen konnte, junge Männer für den Grenzdienst zu rekrutieren und sogar zum Schießen auf Flüchtlinge zu veranlassen. Dazu wurde ein System von ideologischer Beeinflussung, materiellen Anreizen, Disziplinierung, Zwang, Verboten, etwa des Hörens westlicher Radiosender, Strafen wegen Wachvergehens, selbst wenn ein Posten im eintönigen Dienst einnickte, gegenseitiger Überwachung und Bespitzelung durch Stasi-IM auf fast jeder Soldatenstube angewandt. Kontakte zu Bundesbürgern waren verboten, zur eigenen Zivilbevölkerung wurden sie durch strikte Kasernierung eingeschränkt. Engere Westverwandtschaft schloss eine „Grenzkarriere“ aus. So wurde ein aus dem anhaltinischen Aschersleben nach Potsdam versetzter Offiziersanwärter aus einer SED-treuen Familie aufgefordert, sich von seiner schwangeren Freundin zu trennen, weil deren Großmutter im Westen lebte. Daraufhin trennte er sich nicht von seiner Frau – sondern vom unseligen Dienst an der Grenze.
Nicht nur bei einreisenden Bundesbürgern machten sich die Grenzer durch ihre schikanösen Kontrollen und Beschlagnahmen verhasst, sondern durch die rigorose Überwachung auch bei den Einwohnern des sogenannten Grenzgebietes. In der vom damaligen Potsdamer Hauptbahnhof (heute Pirschheide) aus gelenkten Transportpolizei (Trapo) und der Volkspolizei fanden sie willfährige Helfer. So nahm die Trapo vor dem Mauerbau auf Berlin nahen Bahnhöfen Reisende fest, deren übergroßes Gepäck auf eine Fluchtabsicht schließen ließ, und schickte sie zurück. Nach dem Mauerbau verzögerte die Polizeiwache Babelsberg beispielsweise über Monate eine Besuchserlaubnis für das im Grenzgebiet gelegene Altersheim Klein Glienicke, so dass die Großmutter der Antragstellerin darüber hinstarb. Zahlreiche junge Potsdamer, denen wegen ihrer bürgerlichen Herkunft in der DDR ein Oberschulbesuch verweigert worden war, konnten ihre Gymnasien in Westberlin nicht mehr erreichen, ebenso wenig im Umland der Stadt wirtschaftende Bauern ihre auf Westberliner Territorium gelegenen Ackerflächen.
Die größte Eskalation aber stellten die Todesschüsse auf Flüchtlinge dar. Der Berliner Historiker wurde in seinem Vortrag an dieser Stelle zum Psychologen. Er nimmt an, dass nahezu jeder Grenzer froh war, wenn er seine Dienstzeit ohne Gebrauch der Schusswaffe zu Ende gebracht hatte, denn den habe er vor seinem Gewissen nicht rechtfertigen können. Wenn die Grenzsoldaten aber in eine solche stressige Situation kamen, hätten viele dennoch geschossen, sagte Stälter. Zu den Opfern zählten zum Beispiel Herbert Mende, der nach einem Diskobesuch in der Nähe der Glienicker Brücke während eines Streits von einem Grenzer in den Rücken geschossen, und Lothar H., der beim Lauf durch den Sacrower Wald für einen Flüchtling gehalten wurde. Auch mehrere Fluchtversuche von Grenzsoldaten selbst endeten mit tödlichen Schusswechseln.
Das Bild des DDR-Grenzers hat Gerhard Stälter, der in der Stiftung Gedenkstätte Berliner Mauer tätig ist, aus den fast vollständig erhaltenen Akten der Grenztruppen und denen der Mauerschützenprozesse herausgefiltert. Der „Durchschnittsgrenzer“, der nach einer Dienstzeit ohne Schüsse in seinen Beruf zurückgekehrt ist, aber schweige über seine Erfahrungen und seine Motive. Er fürchte, an den Pranger gestellt zu werden, glaubt der Historiker. Für die Forschung wenig ergiebig seien ebenso die Grenzoffiziere, die ohne Unrechtsbewusstsein in Vereinen von alten Zeiten redeten und als Mitglieder des Bundeswehrverbandes um höhere Bezüge stritten. In dessen Kameradschaft Babelsberg seien sie naturgemäß besonders zahlreich vertreten – einige ehemalige Bundeswehrangehörige haben ihr deshalb den Rücken gekehrt.
Der letzte Begleitvortrag zur Ausstellung „Mauerblicke“ findet am Donnerstag, dem 8. Oktober, um 18 Uhr im Marstall des Schlosses Glienicke statt. Günter Schlusche spricht über die Erweiterung der Gedenkstätte Berliner Mauer an der Bernauer Straße.
Erhart Hohenstein
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