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Eindeutige Anzeichen. Eine verdrängten Schwangerschaft kann allerdings auch ohne großen Bauch ablaufen.

© dpa

Wissenschaft: Ungeahnte Umstände

Die Psychologie interessiert sich für das Phänomen der verdrängten Schwangerschaft

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Die junge Frau hatte Probleme mit der Galle. An einem Abend, nachdem sie eine Schmalzstulle gegessen hatte, bekam sie eine so heftige Kolik, dass sie den Notarzt rief. Im Krankenhaus wurde bei der Sonographie festgestellt, dass in ihrem Bauch etwas sei, was da nicht hingehöre. Kurz darauf hatte die 26-jährige Berlinerin ein Kind zur Welt gebracht, spontan und völlig unerwartet. Weder die Familie, noch die Ärzte, noch die bereits zweifache Mutter selbst hatten angeblich etwas von der Schwangerschaft bemerkt. Ein Phänomen, das sich immer wieder beobachten lässt. Jedoch weiß bis heute keiner, wie sich die verdrängte Schwangerschaft erklären lässt.

Die Berliner Psychotherapeutin Annelie Bittner möchte dem Rätsel in einer Dissertation auf die Spur kommen. Von ihrem Vorhaben hatte sie am vergangenen Freitag auf der wissenschaftlichen Summer School der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft an der Fachhochschule Potsdam berichtet. Ihr liegen 57 Interviews des Mediziners Jens Wessel aus den Jahren 1995 bis 1997 vor, in denen Berliner Frauen darüber sprechen, wie die verdrängte Schwangerschaft bei ihnen abgelaufen ist. Darunter auch der Fall der 26-jährigen Katrin F., den Bittner in Potsdam vorstellte.

Bis heute weiß die Psychologie nur wenig über das Phänomen. In den meisten Fällen treten bei den Frauen kaum Anzeichen einer Schwangerschaft auf, die Menstruation bleibt nicht aus, keine Gewichtszunahme ist zu verzeichnen, der Bauch bleibt meist relativ klein, weder der typische Heißhunger noch eine nennenswerte Veränderung der Brüste ist bis zur Geburt zu beobachten. Offensichtlich lassen sich bestimmte Schwangerschaftsmerkmale aufgrund psychischer Beeinträchtigungen unterdrücken. Annelie Bittner vermutet, dass in diesem Fall so etwas wie ein psycho-biologischer Komplex abläuft.

Als Erklärungen sind bislang nur Theorien bekannt. Etwa die einer Bewältigungsstrategie in einer narzisstischen Krise. Möglich sei auch, dass die Verdrängung traumatischer Erlebnisse – etwa einer vorherigen, schweren Geburt – oder eine Reaktion auf Krankheiten und Tod im familiären Umfeld eine Rolle spielen. Denkbar auch, dass Ängste gegenüber dem Partner hinter dem Phänomen stecken. Die wenige existierende Fachliteratur spricht von „negierter Schwangerschaft“ was sowohl verdrängt als auch verheimlicht bedeuten kann. In vielen Fällen lässt sich nicht eindeutig klären, ob die werdenden Mütter die Schwangerschaft tatsächlich selbst nicht bemerkten, oder sie nur vor ihrem Umfeld verborgen haben.

Auf dem Potsdamer Psychologen-Treffen wurde die Psychotherapeutin Annelie Bittner von ihren Kollegen darin bestärkt, eine Forschungsarbeit zu dem Thema anzulegen. Denn das öffentliche Interesse an dem Thema ist groß. Die verdrängte Schwangerschaft ist nicht so selten, wie man anzunehmen vermag. Und auch in den immer wieder auftretenden Fällen von Säuglingstötungen durch Mütter stellt sich die Frage, inwieweit die Schwangerschaft der Mutter und ihrem Umfeld überhaupt bekannt war. So hatte etwa der Fall von Sabine H. für Aufsehen gesorgt, in deren Wohnung in Brieskow-Finkenheerd 2005 die Überreste von neun toten Babys gefunden worden waren. Niemand aus ihrem Umfeld will eine der Schwangerschaften wahrgenommen haben, nicht einmal ihr Ehemann, der regelmäßig intim mit ihr war.

Ein weiterer, sehr überraschender Aspekt ist, dass in diesen Fällen häufig auch die Ärzte die Schwangerschaft nicht feststellen. Anneli Bittner vermutet, dass dahinter eine sogenannte Projektive Identifizierung steckt, ein unbewusster Abwehrmechanismus bei dem Empfindungen auf den Arzt übertragen werden. „Eine massive Abspaltung von Wahrnehmung, um die Schwangerschaft abzuwehren“, so die Psychotherapeuthin. Katrin F. hatte wegen vermeintlicher Gallenbeschwerden sogar mehrfach im Monat ihren Hausarzt aufgesucht. Niemand stellte eine Schwangerschaft fest, auch nicht die Gynäkologin, die sie angeblich zweimal aufgesucht hatte. Nach der Geburt habe der Arzt seine Patientin sogar wegen Kindesentführung anzeigen wollen. Er habe nicht glauben können, dass die Frau ein Kind zur Welt gebracht hatte.

Die Abschrift des Gesprächs mit Katrin F. bietet eine Vielzahl von Deutungsansätzen. Etwa, dass ihre beiden Kinder im Vorfeld häufig krank waren, es in der Familie vermehrt zu Todesfällen gekommen war. Auch spricht sie von finanziellen Problemen, davon dass ein drittes Kind erst einmal nicht geplant war. Sie selbst habe die spontane Geburt völlig überrascht, in der Zeit der unerkannten Schwangerschaft hatte sie sogar noch abgenommen, wohingegen sie bei den ersten beiden Schwangerschaften stark zugenommen hatte.

Allerdings hatte ihr Ehemann sie einige Monate vor der Geburt mehrfach auf ihren Bauch angesprochen und gefragt, ob sie schwanger sei. Was sie zurückgewiesen habe. Wie es nun sein kann, dass am Ende alle getäuscht wurden, wie bei einem Zaubertrick, bei dem man sich bereitwillig etwas vormachen lässt, das vermag nun vielleicht eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den vorhandenen und neuen Daten ergründen.

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