Landeshauptstadt: Verfrühtes Balzgezwitscher
Über 3000 Vögel zählten die Potsdamer für den Naturschutzbund. Einige dürften allerdings gar nicht hier sein
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„Seht mal, da oben!“ Die kleine Gruppe hält an und schaut zum Himmel – in Hunderten Metern Höhe kreist majestätisch ein Raubvogel über den Nuthewiesen. „Ein Habicht“, schließt Ornithologe Manfred Pohl vom Naturschutzbund Potsdam (Nabu) aus der Flugbewegung. Die fünf Potsdamer, die sich am Samstagvormittag im Kirchsteigfeld zu einer Vogel-Exkursion getroffen haben, sind zufrieden – einen Habicht sieht man nicht alle Tage. Insgesamt 32 heimische Vogelarten – von insgesamt 242 – konnten die Naturfreunde zum Schluss auf ihrer Checkliste abhaken. „Ein guter Schnitt“, meint Pohl.
Die Exkursion fand parallel zur bundesweiten „Stunde der Wintervögel“ statt, bei der Naturliebhaber aufgerufen waren, von Freitag bis zum gestrigen Sonntag eine Stunde lang Vogelhäuschen oder Futterstellen zu beobachten, die Vögel dort zu zählen und das Ergebnis an den Nabu zu senden. Es ist das dritte Mal, dass der Nabu die Aktion ausgerufen hat. „Man könnte fast von der ‚Stunde der Sommervögel’ sprechen“, scherzt Manfred Pohl angesichts der milden Temperaturen.
Bis zum Sonntagnachmittag gab es 22 000 Meldungen mit insgesamt über einer halben Million Vögel, laut dem Nabu liege die Beteiligung damit deutlich höher als im Vorjahr. Bundesweit führt bislang die Kohlmeise vor dem Haussperling und der Blaumeise. Vorläufiges Ergebnis für Potsdam: 3110 Vögel wurden an insgesamt 70 Standorten gezählt. Die Daten werden vom Bundesverband des Nabu ausgewertet, der daraus Rückschlüsse über das Verhalten und die Entwicklung der Vogelbestände zieht. Noch bis zum 14. Januar können beim Nabu Zählergebnisse gemeldet werden.
Da die Winter schon seit einigen Jahren nicht mehr so hart sind, verändert sich etwa das Zugverhalten vieler Vögel: Auf einer Wiese sichtet der 22-jährige Biologiestudent Moritz Halbmeier zwei Graugänse. „Die hätte ich nicht erwartet“, staunt Pohl, „die müssten eigentlich weg sein“. Wegen des milden Wetters fliegen mittlerweile einige Zugvögel wie die Stare gar nicht mehr gen Süden, sondern überwintern in Deutschland. In Tremsdorf soll vor einigen Tagen sogar ein Storch aufgetaucht sein. „Das wäre ja wirklich verquer!“, meint Pohl, der sich in den nächsten Tagen selbst einmal vor Ort umsehen will.
Falls es jedoch noch einmal richtig kalt werden sollte, müssen einige der dagebliebenen Vögel doch noch in den Süden flüchten. Die Wahrscheinlichkeit dafür ist laut Pohl sogar recht hoch, denn bei kürzlichen Exkursionen hat er eine große Zahl an Seidenschwänzen im Neuen Garten und im Park Sanssouci beobachtet. „Wenn die hier so einfallen, heißt das, dass uns noch ein harter Winter bevorsteht“, ist sich der Vogelkundler sicher.
Anders als bei der Stunde der Wintervögel geht es bei der Exkursion jedoch nur um die Registrierung des Artenreichtums, nicht um die Anzahl der Vögel: Kleiber, Wintergoldhähnchen, Blaumeise, Kolkrabe – nach und nach füllt sich die Liste. Pohl ist erfreut, als er auch den Ruf eines Kernbeißers vernimmt. Zu dieser Vogelart, die Kirschkerne zerbeißen kann, hat der 59-jährige Ornithologe ein besonderes Verhältnis: Vor 40 Jahren hatte ein Kernbeißer Pohl beim Beringen in den Finger geschnappt, welcher darauf hinblau angelaufen war. „Mein Kollege kam zu mir und meinte: Bei dem Schrei kann das ja nur ein Kernbeißer gewesen sein!“ Seiner Vogel-Leidenschaft hat das keinen Abbruch getan: Für überwinternde Bussarde hat Pohl sogar einmal bei großer Kälte einige Schweineherzen vom Fleischer als Winterfutter ausgelegt.
Insgesamt ist Potsdam und Umgebung dank viel Wasser und Grün ein recht guter Lebensraum für viele Vogelarten. „Zum Beispiel die ganzen Nachtigallen“, sagt Moritz Halbmeier, „wo hat man das schon in der Innenstadt?“ Der Student an der Universität Potsdam macht oft allein Vogelexkursionen, aber heute hat er sich der Gruppe angeschlossen: „Ich habe mir gedacht, bevor ich am Schreibtisch sitze und was für die Uni mache, gehe ich lieber raus“, meint er augenzwinkernd.
In den vergangenen Jahren hat Pohl bei einigen Vogelarten in Potsdam Bestandsrückgänge registriert, etwa bei den Bartmeisen oder Kiebitzen. Er führt das auf die zunehmende Bebauung von Feldern und anderen Grünflächen zurück. Andererseits gibt es aber auch Vogelarten, die dank der Klimaerwärmung häufiger werden: „Vor sechs Jahren habe ich hier zum ersten Mal ein Schwarzkehlchen gesehen, was noch wirklich eine Seltenheit war.“ Heute seien die Vögel jedoch längst auf dem Vormarsch, gleiches gelte für Blaukehlchen. Die derzeit milde Witterung scheint das zu bestätigen. Einige Vögel denken sogar an Paarungssuche. Pohl macht auf das Zwitschern einiger Meisen an einer Wohnhausfassade aufmerksam: „Das ist schon ein bisschen Balzgezeter. Das Männchen macht dem Weibchen klar: Hier können wir einziehen!“
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