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Landeshauptstadt: Verhör mit Bauchschuss

Im heutigen Potsdamer Stadtgebiet und im Raum Teltow/Kleinmachnow kamen mehr als 20 Menschen an den Grenzanlagen zu Tode. Nicht allen Opfern wurde ein Fluchtversuch zum Verhängnis

Stand:

Hans-Peter Hauptmann wohnte im Grenz-Sperrgebiet unweit der West-Berliner Exklave Steinstücken. Am 24. April 1965 lernt der 26-jährige Arbeiter in einer Kneipe zwei Zivilangestellte der DDR-Volksmarine kennen und lädt sie zum Umtrunk in seine Babelsberger Wohnung in der Stahnsdorfer Straße ein. Die Grenzposten lassen die drei Männer beim Betreten des Grenzgebietes unkontrolliert passieren. Als die beiden Seeleute gegen drei Uhr angetrunken wieder aufbrechen, werden sie an der Kontrollstellen aufgehalten.

Der Grenzposten hatte inzwischen gewechselt und wollte die Männer ohne Passierschein verhaften. Hans-Peter Hauptmann kam hinzu, wollte schlichten und sollte dann aber selbst wegen fehlendem Quartalsstempel verhaftet werden. Es kam zum Handgemenge, Hauptmann wollte dem Posten die Waffe abnehmen, mit der er zum Stehen bleiben aufgefordert worden war. Der Grenzposten schoss neunmal auf den Anwohner, der am 3. Mai seinen Verletzungen erlag.

Der Vorfall zeigt, dass nicht nur Flüchtlinge in den Jahren 1961 bis 1989 entlang der Berliner Grenzbefestigung zu Tode kamen. Von den vorläufig 125 Mauertoten, die das Potsdamer Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) bislang entlang der Berliner Grenzbefestigungen ermittelt hat (PNN berichteten), waren 24 Menschen ohne Fluchtabsichten, acht Opfer waren Grenzsoldaten. Auf das heutige Potsdamer Stadtgebiet und Teltow/Kleinmachnow entfallen dabei mehr als 20 Opfer (siehe Spalten „Maueropfer).

Um die genauen Zahlen gibt es nach wie vor Unstimmigkeiten. Alexandra Hildebrandt von der Arbeitsgemeinschaft 13. August spricht im Gegensatz zum ZZF von 262 Opfern und wirft dem Potsdamer Projekt vor, die Zahl herunterzuspielen. Die Potsdamer Forscher verweisen hingegen darauf, dass aufgrund fehlender Akten viele Fälle auf Hörensagen beruhten; Akten aus den Mauerschützenprozessen konnten erst nach deren Abschluss eingesehen werden. Oft habe es auch aufgrund der schlechten Informationslage zwischen Ost und West Missverständnisse gegeben. Manch ein im Westen Totgeglaubter tauchte später wieder auf. So konnten vom ZZF 62 Verdachtsfälle definitiv ausgeschlossen werden, 81 weitere sollen noch geklärt werden.

Was das Potsdamer Gemeinschaftsprojekt mit dem Dokumentationszentrum Berliner Mauer ausmacht, ist neben dem differenzierten Umgang mit den Zahlen und einem Fokus auf den Tatumständen und Biografien der Opfer auch die Einschätzung des Umgangs der DDR-Obrigkeit mit den Mauertoten. Hier sei eine Tendenz zur Verschleierung zu beobachten, den Angehörigen wurden nach den ersten Jahren des Mauerbaus zunehmend falsche Angaben zur Todesursache der Opfer gemacht. In den Stasi-Akten ist von „festgelegter Legendierung“ die Rede. Druck wurde auf die Angehörigen der Opfer zudem bezüglich der Verschwiegenheit und der Art der Bestattungen ausgeübt.

So auch im Fall von Hans-Jürgen Starrost, der am 14. April 1981 im Alter von 26 Jahren in Teltow-Sigridshorst bei einem Fluchtversuch angeschossen worden war. Trotz lebensbedrohlichem Zustand wurde der Ost-Berliner von einem Stasi-Offizier am Grenzstützpunkt stundenlang verhört. Erst danach kam er ins Armeelazarett Drewitz, ein Bauchschuss hatte dem jungen Mann die Milz und eine Niere zerfetzt. Hans-Jürgen Starrost starb am 16. Mai 1981 an den Folgen der schweren Schussverletzung. Seine Mutter war nicht sofort über den lebensbedrohlichen Zustand ihres Sohnes informiert worden, sie wurde erst benachrichtigt, als ihr Sohn über das Geschehen nicht mehr berichten konnte. Nach dem Tod des Sohnes musste die Mutter einer Urnenbestattung und der Vernichtung seiner Kleidung zustimmen. Spuren waren offensichtlich unerwünscht.

Die meisten Todesfälle finden sich in der Zeit direkt nach dem Mauerbau. Ob die Abnahme der Fälle nach 1967 und noch einmal nach 1976 mit der technischen Perfektionierung der Grenzanlagen oder mit der Entspannungspolitik zusammenhing, können die Historiker bislang noch nicht sagen. Fest steht aber, dass rund 80 Prozent der an der Grenze getöteten Menschen jünger als 30 waren, nur acht von ihnen waren Frauen. Und bisweilen erwischte es auch die eigenen Leute. So etwa den inoffiziellen Stasi-Mitarbeiter Lothar Hennig (21), der am 4. November 1975 in der Nähe seiner Wohnung im Grenz-Sperrgebiet Sacrow für einen Flüchtling gehalten und erschossen wurde.

Manch eine Flucht glückte schließlich und endete dann doch tragisch. In den frühen Morgenstunden des 22. Januar 1973 wagte ein Ehepaar aus der DDR mit seinem 15 Monate alten Sohn in Kisten versteckt auf einem West-Berliner LKW die Flucht. Die Grenzkontrollen in Drewitz dauerten länger als gewöhnlich. Als der an Bronchitis leidende kleinen Holger H. anfing zu weinen, hielt seine Mutter ihm in Panik den Mund zu. 300 Meter weiter am West-Berliner Kontrollpunkt Dreilinden atmete der Junge nicht mehr.

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