Homepage: Verlorene Jugend?
Die Jugendlichen geraten durch den demografischen Wandel unter Druck, besonders im Osten
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Der Song ist umstritten. Aber sogar Sozialwissenschaftler können ihm etwas abgewinnen. „Es gibt Länder, wo was los ist – und es gibt Brandenburg“, singt Reinald Grebe in seiner Anti-Hymne auf die Mark. Es geht um Leere und Perspektivlosigkeit. „Kollektive Wirkungen von Klischees“ nennen Forscher das. Und doch steckt in jedem Klischee auch ein Fünkchen Wahrheit. Im Fall von Brandenburg ist das schon mehr als ein Fünkchen, denn die Abwanderung vor allem junger gebildeter Frauen aus den Randregionen lässt dort heute schon viele Männer, teils mit niedrigem Bildungsniveau, in einer älter werdenden Gesellschaft zurück. Eine bedenkliche Entwicklung. Die Sozial- und Erziehungswissenschaftler fragen nun, was das für die Jugend bedeutet, die dort zurückbleibt. Die Ergebnisse einer Tagung der Uni Potsdam zu diesem Thema (PNN berichteten) sind allemal mehr als eine Warnung.
Rund 1,5 Millionen Menschen sind seit 1989 aus dem Osten abgewandert. Ein Großteil davon Frauen. Mit zum Teil drastischen Folgen für das Geschlechterverhältnis. Während normalerweise etwa 96 Frauen auf 100 Männer kommen sind es in den neuen Bundesländern mittlerweile nur noch rund 89, in einigen Landkreisen liegt dieser Wert sogar unter 80. Werte, die im europäischen Vergleich ganz hinten liegen, hinter Griechenland und Nordschweden. Entwarnung können die Demografen nur für Regionen mit Jobs im Dienstleistungssektor geben: Potsdam und Berlin beispielsweise ziehen jungen Frauen an.
Was bedeuten die Zahlen? „Viele der möglichen Geburten sind durch die Abwanderung der Frauen nicht hier erfolgt“, erläutert Steffen Kröhnert vom Bevölkerungsinstitut Berlin. Kröhnert hat nachgerechnet: jährlich gab es durch den Weggang junger Frauen rund 10 000 Geburten weniger im Osten, seit 1995 kommt er auf ein Minus von rund 100 000 Kindern. Kröhnert kommt zu dem Ergebnis, dass Frauen auf Krisen stärker reagieren, während Männer dazu neigen, in Starre zu verfallen. Zu beobachten sei zudem, dass die soziale Kompetenz der jungen Männer stark abnehmen. „Die Mädchen haben die Fähigkeit, sich zu äußern, während die jungen Männer hinter ihren Schießscharten verharren“, so Kröhnert. Um hier etwas zu bewegen, schlägt er ein spezielles Kommunikationstraining für Jungs vor.
Überrascht wurde Kröhnert in seinen Forschungsinterviews davon, dass die jungen Männer, die in den Randregionen des Ostens zurückbleiben, das Nichtvorhandensein junger Frauen – und damit potenzieller Partnerinnen – oft gar nicht wahrnehmen. Sie würden sich bei der Feuerwehr, dem Schützenverein oder hinter dem Computer beschäftigen, ohne Aussicht darauf, irgendwann einmal eine Familie zu gründen.
Dass Frauen auf Strukturschwäche mit Steigerung ihres Bildungsstandes und Wegzug reagieren, kann Kröhnert mit Zahlen belegen. So ist der Anteil von Frauen mit Abitur im Osten zum Teil signifikant höher als der junger Männer, von denen doppelt so viele die Schule ohne Abschluss (zum Teil bis 20 Prozent!) verlassen. „Es wird Zeit, dass wir uns mehr Gedanken über die männlichen Jugendlichen machen“, so der Forscher. Kröhnert hat eine These für die Situation der jungen Männer. In der DDR habe noch stärker als im Westen ein traditionelles Rollenbild vorgeherrscht, als Mann arbeitete man demnach in typischen Sparten wie dem Handwerk oder technischen Berufen. „Auf dem Land gilt bis heute die Vorstellung, dass die Jungen etwa auf dem Bau arbeiten“, so Kröhnert. Bürojobs würden als nicht adäquat gelten. Die Frauen hingegen hätten keine Berührungsängste mit dem Büro, sie ziehe es in Regionen, in denen der Dienstleistungs- und Finanzsektor stark ist. Ein Grund dafür, dass sie dann nicht mehr zurückkehren, liege darin, dass sie zum Großteil in der neuen Heimat Partner finden und Familien gründen. „Frauen vermeiden Abwärtspartnerschaften“, so das Ergebnis der Soziologen. Daher würde sie es in den Westen ziehen, wo sie Männer mit besseren Einkommenschancen fänden.
Und die Jugendlichen? Die scheinen unter der Situation wesentlich stärker zu leiden als bislang angenommen. Auf der Tagung näherte man sich den jungen Menschen nicht nur mit wissenschaftlichen Befragungen. In einem Projekt hat Dr. Ulrike Pilarczyk (Uni Potsdam) Jugendliche in Einsenhüttenstadt ihre Stadt fotografieren lassen. Auf den Bildern findet sich kaum ein Mensch, man sieht verlassene Jugendclubs, leerstehende Plattenbauten und verwaiste Skaterbahnen. Noch direkter bringt es ein Musikvideo von Jugendlichen aus Mecklenburg-Vorpommern auf den Punkt „Gehn wir oder bleib ich hier?“, lautet der Refrain. „Sagt ihr es mir“, ist das Fazit der Jugendlichen.
Eine Untersuchung von Prof. Wilfried Schubarth (Uni Potsdam) kommt zu dem Schluss, dass bei den Jüngeren der Bleibewunsch noch sehr stark ist. Mit dem Älterwerden setze dann aber eine rationale Rechtfertigung des Weggehens ein: eigentlich würde man gerne bleiben, aber es mache doch keinen Sinn. In qualitativen Befragungen in der Uckermark kam auch Schubarth mit seinem Team zu dem Ergebnis, dass gerade junge Männer entgegen der Entwicklung bleiben und sich in der Situation einrichten. „Die Bleibeorientierung wird nicht allein vom Arbeitsmarkt geprägt, es kann auch eine frei gewählte Lebensoption sein“, so Karsten Speck aus dem Forscherteam. „Wir müssen nun stärker unseren Blick auf diejenigen richten, die bleiben“, so Schubarths Fazit.
Dagmar Hoffmann, Soziologin der Potsdamer Filmhochschule HFF, beendete die Potsdamer Tagung mit einem emphatischen Statement zur allgemeinen Lage der Jugend. „Wenn die Gesellschaft so weiter macht wie bisher, und die Jugendlichen nur unter funktionalen Bedingungen sieht, wird sie die Jugend verlieren“. Jugendliche würden schon heute stark marginalisiert, Kinder in besseren Schichten hingegen zu Prestigeobjekten verklärt. Anstelle der Fürsorge trete immer mehr eine Verwertungssicht. Der Zwang, die Zukunft zu gestalten, sei mittlerweile zum gesellschaftlichen Diktat geworden, mit der Folge, dass die Zahl der Schulverweigerer steige. Viele Jugendliche würden schon heute in die Welt der Videospiele, des Internets und der TV-Shows flüchten.
Eine Sicht, die nicht unwidersprochen blieb. Der Sozialforscher Arthur Fischer warnte im Gegensatz zu der Potsdamer Soziologin vor einer überbehüteten und überstrapazierten Jugend. Durch die Alterung der Gesellschaft werde die Jugend zum „knappen Gut“. „Von diesem kleiner werdenden Kuchen wird sich in Zukunft jeder etwas herausschneiden wollen“, sagte der Mitverfasser der Shell-Jugendstudien. Wie man es auch dreht, Anlass zur Sorge hatten alle Beteiligten der Potsdamer Tagung.
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