Homepage: Verschleiert und tabuisiert
Der Zwischenbericht eines ZZF-Projektes zu den Berliner Mauertoten belegt bislang 125 Fälle
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Man wolle nicht die Zahlen hoch- oder runterrechnen. Vielmehr gehe es um einen Annäherung an das, was wirklich geschah. Im vergangenen Jahr hatte das Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF) zum Start seines Forschungsprojektes zu den Berliner Maueropfern noch von 138 Opfern des Grenzregimes der DDR in Berlin gesprochen. Nun, zum Zwischenbericht des zweijährigen Projektes, wurde die Zahl auf 125 herunter gesetzt. Was zeigt, dass das Projekt eine genaue Differenzierung der Zahl der Menschen, die 1961 bis 1989 an der Berliner DDR-Grenze zu Tode kamen, vornimmt. Wie Dr. Hans-Herrmann Hertle vom ZZF gestern sagte, konnten 62 Todes- und Verdachtsfälle durch die Recherchen definitiv ausgeschlossen werden, 81 weitere Verdachtsfälle würden nun noch geprüft.
Am Ende des Projektes könnte die Gesamtzahl der Opfer dann etwas niedriger liegen, als bisher angenommen. Was den Vorfällen nichts von ihrer Tragik nimmt. „Jedes Mal wurde ein Leben durch das Mauerregime beendet, jedes Mal wurde einem Menschen die Chance zu leben genommen“, sagte die Vorsitzende des Vereins Berliner Mauer, Gabriele Camphausen. Die direkten Todesopfer an der Grenze waren nach Einschätzung von Hertle nur die Spitze eines Eisberges. Die Mauertoten stünden für viele weitere menschliche Tragödien. So habe es in der DDR-Zeit bis zu 100 000 Verfahren wegen versuchter Republikflucht gegeben, mindestens ebenso viele Menschen hätten deswegen in Haft gesessen.
Das Gemeinschaftsprojekt mit dem Verein Berliner Mauer will dann auch nicht die Zahlen, sondern die Biografien, Todesumstände und Motivationen der an der Grenzen getöteten Menschen in den Vordergrund stellen. Ein Großteil der Opfer waren Flüchtlinge, aber es gab auch Menschen, die ohne direkten Grund oder durch Unfälle und Freitod an der Mauer zu Tode kamen. Hier versucht das Projekt nun zu differenzieren und die Hintergründe so ausführlich wie möglich zu recherchieren. Die bislang 125 geklärten Fälle sind bereits im Internet einzusehen, zum Ende des Projektes soll ein öffentlich zugängliches „Totenbuch“ entstehen.
Eine wichtige Frage ist für die Forscher auch, wie das DDR-Regime mit den Todesfällen und den Angehörigen der Opfer umging. Christine Brecht vom ZZF spricht hier von gezielten Manipulationen und Verschleierungen. Augenfällig sei immer wieder die Repression, die vom Regime ausging. Etwa im Falle von Lothar Lehmann, der am 26. November 1961 in der Nähe von Sacrow in der Havel ertrank. Der 19-Jährige hatte an diesem Abend Dienst bei der Bereitschaftspolizei Groß Glienicke, die die Grenze zwischen dem Bezirk Potsdam und West-Berlin bewachte. Sein Wille zur Flucht muss so stark gewesen sein, dass er sich nur mit Trainingsanzug und Schwimmweste bekleidet in das eiskalte Wasser begab. Nach einem Kreislaufkollaps ertrank er. Seine Eltern wurden in den folgenden Tagen mehrfach verhört. „Ohnmächtig mussten sie erleben, wie ihr toter Sohn als Verbrecher und Fahnenflüchtiger verunglimpft wurde“, heißt es im Zwischenbericht des Projektes. „Die Angehörigen der Toten wurden nach dem Mauerbau von den Behörden massiv unter Druck gesetzt“, so die Historikerin Brecht. Teilweise mussten sie sich schriftlich verpflichten, über die Todesumstände Stillschweigen zu bewahren.
In den folgenden Jahren kam die Taktik der Verschleierung und Legendenbildung hinzu. „Die Stasi setzte alles daran, das Wissen über die Mauertoten so gering wie möglich zu halten“, so die Zeithistoriker. Die Todesfälle an der Mauer seien in der DDR-Gesellschaft zunehmend tabuisiert worden. Als Beispiel nennt Christine Brecht den Fall von Herbert Halli. Am 3. April 1975 wurde der Elektromonteur, der an der Baustelle des „Palastes der Republik“ arbeitete, beim Fluchtversuch an der Leipziger Straße von Grenzposten erschossen. Der Vorfall wurde weder in Ost noch in West bemerkt. Gegenüber den Angehörigen verschleierte die Stasi die Todesumstände. Erst 14 Tage nach Verschwinden ihres Sohnes wurde den Eltern mitgeteilt, ihr Sohn sei bei einer Zechtour betrunken in eine Baugrube gefallen und verunglückt. Das tatsächliche Schicksal von Herbert Halli konnte erst nach dem Mauerfall aufgeklärt werden. „Den DDR-Behörden ist es immer wieder gelungen, die Angehörigen zu täuschen und die Opfer zu diffamieren“, so das Fazit des Historikers Dr. Udo Baron.
Das Projekt im Internet:
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