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„STOLPERSTEINE“: Vom Paradies nach Theresienstadt

Gestern wurden sechs weitere „Stolpersteine“ verlegt: Potsdamer Schüler befragten auch die eigenen Familien

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Irgendwann waren die Salingers nicht mehr da. Aber was genau passiert ist im Herbst 1942, wusste Erika Siekemeier lange Zeit nicht. Dass die Schwester ihrer Oma und deren jüdischer Mann ins Konzentrationslager Theresienstadt deportiert wurden, darüber wurde selbst in der Familie „offiziell nicht gesprochen“, berichtet die 86-Jährige, die heute in Hannover lebt. Mit dem ehemaligen Wohnhaus der Salingers in der Jägerallee 25, in dem jetzt der Landkreistag Brandenburg sitzt, verband sie nur gute Erinnerungen: „Potsdam, das war unser Kinderparadies“, sagt Erika Siekemeier und erzählt von der Vorfreude bei der Anreise aus Berlin mit der „harten Puff-Bahn“, wie der Zug mit den Holzbänken genannt wurde, und von sonnigen Nachmittagen mit Kindern von befreundeten Familien im Garten der Villa.

Seit gestern erinnern zwei „Stolpersteine“ vor dem Haus in der Jägerallee an das Schicksal des Architekten Paul Salingers und seiner Frau Elisabeth. Insgesamt sechs solcher Gedenksteine für ermordete Potsdamer Juden verlegte der Kölner Künstler Gunter Demnig am Nachmittag in Potsdam – es war die zweite „Stolperstein“-Aktion in der Landeshauptstadt. Mit den Steinen würden die Schicksale der ermordeten Potsdamer Juden dem Gedächtnis der Stadt zurückgegeben, erklärte Oberbürgermeister Jann Jakobs (SPD). Rund 100 Interessierte waren zur Verlegung gekommen – darunter neben der Familie Siekemeier auch die Schüler der Voltaire-Gesamtschule und des Helmholtz-Gymnasiums, die die Lebensgeschichten im Vorfeld recherchiert hatten.

Sie waren es auch, die Erika Siekemeier ins „Stolperstein“-Projekt geholt haben: Im Januar habe sie einen Brief aus Potsdam bekommen, geschrieben von der Voltaire-Schülerin Eva Kautzsch, erzählt die agile Rentnerin: „Ich habe Eva sofort angerufen.“ Danach studierte sie Akten aus dem Brandenburgischen Landeshauptarchiv, suchte nach Familienfotos und Kindheitserinnerungen, schrieb Mails. Die Ergebnisse hätten sie „zutiefst getroffen“, sagt die 86-Jährige: Aus den Archivunterlagen gehe hervor, dass die Salingers auch vor der Deportation jahrelang schikaniert wurden. Für jede Banküberweisung etwa hätten sie eine Genehmigung einholen müssen.

Nach dem Prinzip „Stolperstein“ befragten Eva Kautzsch und ihre Klassenkameraden auch ihre eigenen Großeltern: „Ich habe alles aufgeschrieben, was mein Großvater erzählt hat“, berichtet die Achtklässlerin. Ergebnisse und Erlebnisse der Recherchen wollen die Schüler bald in einem Buch festhalten.

„Sie wissen plötzlich mehr über meine Familie als ich“, sagt Michael Kann und lächelt. Er war bereits bei der ersten „Stolperstein“-Verlegung in Potsdam 2008 dabei: Damals wurde an seinen Großvater Wilhelm Kann erinnert. Gestern verlegte Gunter Demnig einen Stein für Kanns Urgroßvater Franz Bernhard. „Je älter ich werde, desto mehr bewegt mich das“, erklärte Kann, der seit fünf Jahren wieder in Potsdam lebt.

Die Schikanen, denen der Bankier Bernhard vor seinem Tod ausgesetzt war, sind bis heute nicht beigelegt, wie Kann berichtet. Wem die ehemalige Villa seines Urgroßvaters in der Berliner Straße 53 heute gehört, wisse er nicht. Das Haus ist dem Anschein nach unbewohnt, der Zaun mit Brettern vernagelt. Nachfahren des „Arisierers“, der Franz Bernhard die Villa gegen eine monatliche Rente abnahm, hätten sich nach der Wende als „Judenfreunde“ hingestellt und um eine Rückübertragung des Hauses bemüht, erzählt Michael Kann. „Ich freue mich über diesen Stein“, sagt er dann: „Wer immer das Haus jetzt besitzt, der stolpert darüber.“

Die Schülerausstellung zu den Stolperstein-Schicksalen ist bis Ostermontag, 13. April, im Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte (HBPG) am Neuen Markt zu sehen. Das Filmmuseum zeigt in dieser Woche die Dokumentation „Stolperstein“: Der Film läuft heute und am Freitag um 18 Uhr, Mittwoch und Sonntag 20 Uhr.

Er verlegt jeden Stein selbst: Mehr als 19 000 Menschen hat Gunter Demnig mit „Stolpersteinen“ bereits ein Denkmal gesetzt. Sie liegen in 421 deutschen Gemeinden, aber auch in Orten in Österreich, Ungarn, Polen, Tschechien und den Niederlanden, sagte der Kölner Künstler und Initiator des Projektes gestern. Die Steine erinnern an Opfer des Nationalsozialismus und werden vor der letzten frei gewählten Wohnung der Toten in den Gehweg eingelassen. In Potsdam gibt es dreizehn „Stolpersteine“. Die Kosten von 95 Euro pro Stein werden über Spenden finanziert. jaha

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