Landeshauptstadt: Von der Mercure-Baustelle in die Dorfkirche
Sie sind gelernte Betonfacharbeiter – und arbeiten als Pfarrer, Jurist oder Architekt: Ein Klassentreffen des BMK Ost nach 45 Jahren
Stand:
Als Schüler haben sie eine Betondecke im Alten Rathaus am Alten Markt, seinerzeit noch Kulturhaus „Hans Marchwitza“, eingezogen. Und die Fundamente des heutigen Hotels „Mercure“ kaschiert. Kaschiert? „Als die Fundamente entschalt wurden, war die Bewehrung noch zu sehen – das sollten wir verputzen“, erklärt Hein Görrissen. Und auch an das Prüfungsstück des Abiturjahrgangs 1967 bei den Betonfacharbeitern im Bau- und Montagekombinat Ost (BMK) auf dem Luftschiffhafen-Gelände erinnert er sich: Es war eine neue Getriebefabrik in Pritzwalk. „Wir mussten die Bewehrung fertigen, Stützen einschalen, betonieren, am Ende ausschalen – das war unsere praktische Prüfung“, erzählt Hein Görrissen. Das Gebäude in Pritzwalk steht heute noch. Die Schule am Luftschiffhafen nicht mehr. Sie wich 1996 dem Neubau der Sparkassenakademie, dem heutigen Kongresshotel am Templiner See.
Dort trafen sich Görrissen und seine Klassenkameraden am gestrigen Freitag. Beinahe auf den Tag genau 45 Jahre sind vergangen seit der Abi-Zeugnisübergabe am 22. Juli 1967. Ein Foto von damals zeigt die Schulabgänger – auch zwei Frauen gab es in der Klasse – mit stolzen Gesichtern und in feinen Anzügen. Für das Wiedersehen waren viele der zwölf verbliebenen Schulkameraden aus anderen Städten angereist – Leipzig oder Aalen zum Beispiel. Klassenlehrer Wilhelm Gedicke fand den Weg aus Beelitz nach Potsdam: „Ein Treffen nach so langer Zeit, das ist schon einmalig“, sagte er.
Bezeichnend: Bauarbeiter ist keiner der Abiturienten geblieben. Sogar ein Theologe ist unter den ausgelernten Betonfacharbeitern. Frank-Norbert Möhring war viele Jahre als Pfarrer im Kirchenkreis Nauen unter anderem für das Fontane-Dorf Ribbeck im Havelland zuständig, bevor er in Rente ging. „Als ich in Potsdam angefangen habe, war für mich schon klar, wohin ich wollte – ich brauchte das Abitur“, erzählt der 65-Jährige. Voraussetzung für eine Kirchenlaufbahn in der DDR war ein Studium an einer Kircheneinrichtung, zum Beispiel am Sprachenkonvikt Ostberlin. „Das war im Prinzip ein Tarnname für eine kirchliche Hochschule“, erklärt Möhring.
Auch wenn für ihn Studium und die spätere Arbeit in der Kirche eine „völlig andere Welt“ waren, hat ihm die praktische Ausbildung auf der Baustelle geholfen: Als Student verdiente er sich mit Bauarbeiterjobs nebenbei ein Zubrot. Auch als Pfarrer machte er sich seine Erfahrungen aus Potsdam zunutze: „Ich hatte keine Angst vor solchen alltäglichen Sachen.“ Bei Kirchengebäuden, die gerade in ländlichen Regionen teilweise in schlimmem Zustand waren, habe er besser einschätzen können, was genau das Problem war – und welcher Handwerker Abhilfe schaffen konnte.
Auch für die meisten anderen Mitschüler war die dreijährige Berufsausbildung mit Abitur am Luftschiffhafen das Sprungbrett an eine Hochschule. Denn die Plätze an den Erweiterten Oberschulen (EOS) der DDR waren nicht nur knapp bemessen, bei der Vergabe spielten auch ideologische Gründe eine Rolle. Hein Görrissen etwa hatte als Zweitbester seiner Klasse keine Chance auf ein reguläres Abitur an der EOS, weil er kein Mitglied bei den DDR-Jugendorganisationen der Pioniere und der Freien Deutschen Jugend (FDJ) war.
Mit dem Betonfacharbeiter-Abi in der Tasche studierte er schließlich in Wismar Bauingenieurwesen. Heute arbeitet er als selbstständiger Architekt in Glindow. Ein anderer Mitschüler ist Radwegeplaner in Leipzig geworden, auch einen Juristen gibt es, Bernd Teske wiederum ging nach der Wende nach Aalen in Baden-Württemberg und leitet heute das Labor eines Lackierbetriebes. „Wir waren wirklich eine gute Clique“, sagt er über seine Klasse. Die erste Ehe, die Frank-Norbert Möhring als angehender Pfarrer segnete, war die seines ehemaligen Mitschülers Hein Görrissen. „Ich weiß noch, wie du das Vaterunser vergessen hattest – und meine Mutter musste aushelfen“, erzählt Görrissen lachend. Die komplette Truppe traf sich das letzte Mal zum 25-jährigen Zeugnis-Jubiläum 1992.
Im selben Jahr zog auch die ehemalige Schule vom Luftschiffhafen-Gelände nach Neu Fahrland, berichtet Klassenlehrer Wilhelm Gedicke, der die Schüler in Chemie und Baustoffkunde unterrichtete. Bereits 1991 war die dreijährige Berufsausbildung mit Abitur abgeschafft worden. Stattdessen wurden die sogenannten Fachoberschulen eingeführt, die Vorläufer der heutigen Oberstufenzentren, die verschiedene Berufsausbildungen unter einem Dach anbieten. Im Jahr 2002 dann zogen die verbliebenen Lehrer wieder um – von Neu Fahrland in das neue Oberstufenzentrum in dem sanierten Kasernenkomplex in der Jägerallee.
Am Luftschiffhafen erinnert nichts mehr an das Schulgebäude und das BMK, das dort einst seinen Sitz hatte. Ein etwa 60 Meter langer Bau hatte damals Schule, Internat und Mensa beherbergt, erinnert sich Hein Görrissen auf der Terrasse des Hotels. Bäume sind neu gepflanzt worden, Erdhügel wurden aufgeschüttet und begrünt: „Hier war ja alles flach“, erzählt Görrissen. Dann zeigt er auf einen kleinen Tümpel: „Wo dieses Feuchtbiotop ist, da war unser Schulhof.“
Aber auf dem BMK-Gelände wurden nicht nur Betonfacharbeiter ausgebildet, sondern auch Baufacharbeiter, Meister und Lehrmeister. Große Bauprojekte in der Region wurden hier vorbereitet: „Es gab die Eisenbiegerei, wo Eisenträger zusammengeschweißt und Bewehrungsmatten gefertigt wurden“, berichtet Hein Görrissen. Dass Betonbauten, an denen er seinerzeit mitgearbeitet hat, jetzt abgerissen werden sollen, berührt den Architekten wenig. Auch der verschwundenen Schule trauert er nicht nach: „Es ist ja wesentlich schöner geworden hier“, sagt er.
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: