Homepage: Vorsätzliche Legendenbildung
ZZF-Projekt zu Mauertoten arbeitet die Biographien der Opfer auf / Zahlen der Maueropfer umstritten
Stand:
Plötzlich stand der Vorwurf der Geschichtsverfälschung im Raum. Vorgeworfen ausgerechnet dem Potsdamer Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF), das sich seit Jahr und Tag um ein klares Geschichtsbild vor allem auch der deutsch-deutschen Geschichte bemüht. Pünktlich zum 47. Jahrestag des Mauerbaus am 23. August dieses Jahres hatte das ZZF ein vorläufiges Ergebnis ihres aktuellen Forschungsprojektes zu den Opfern der Berliner Mauer geliefert, wonach mindestens 136 Menschen von 1961 bis 1989 Opfer der Grenzbefestigung wurden. Prompt lieferte die Vorsitzende der „Arbeitsgemeinschaft 13. August“, Alexandra Hildebrandt, die Zahl von 222 Maueropfern und sprach im Zusammenhang mit der Potsdamer Zahl von einem „Verbrechen“.
Dr. Hans-Hermann Hertle vom ZZF, der das Projekt gemeinsam mit Maria Nooke von der Gedenkstätte Berliner Mauer leitet, weiß im Gespräch mit den PNN zu differenzieren. Die unterschiedlichen Zahlen kämen zustande, weil die „Arbeitsgemeinschaft 13. August“ mit einem weiter gefassten Begriff der Maueropfer arbeite; sie führe auch Menschen auf, deren Tod nicht in direkten Zusammenhang mit der Mauer stehe, aber auch viele unbestätigte Verdachtsfälle. Das ZZF hat nur Fälle in seine Statistik aufgenommen, bei denen Menschen an der Mauer getötet oder in unmittelbarem Zusammenhang mit dem DDR-Grenzregime ums Leben kamen. So tauchen beispielsweise Grenzsoldaten, die sich aus Liebeskummer das Leben nahmen, nicht in der ZZF-Statistik auf.
Hans-Hermann Hertle will den Streit um die Opferzahlen nicht in den Vordergrund rücken. Dem Projekt sei der Blick auf die Biografien der Opfer wichtiger, sagt er. „Uns geht es nicht um ein Buhlen um die richtige Gesamtopferzahl“, hatte auch ZZF-Direktor Prof. Martin Sabrow zu dem Projekt gesagt. Und tatsächlich werden nun hinter den abstrakten Zahlen jäh abreißende Lebenswege, tragische Schicksale und immer wieder auch perfide Funktionsmechanismen des DDR-Regimes sichtbar. Insgesamt 33 der 136 bisher vom ZZF gesicherten Fälle haben die Forscher mittlerweile umfassend mit Biographie und Tathergang aufgearbeitet und der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt.
Ausgangspunkt des Biographie-Projektes sei die Erkenntnis, dass meist nur einzelne Maueropfer wie Peter Fechter und Chris Gueffroy bekannt sind. Das ZZF will nun alle Opfer in den Blick der Gedenkkultur rücken. „Unser Hauptziel ist zu klären, wer diese Menschen gewesen sind, was hat sie zur Flucht veranlasst, wie ist die Flucht verlaufen, wie wurde mit ihnen nach ihrem Tod umgegangen, wie mit ihren Angehörigen“, erklärt Hertle. Auch gehe es darum, wie die einzelnen Fälle strafrechtlich aufgearbeitet wurden.
Bislang haben die ZZF-Historiker 374 Todesfälle geprüft, wovon 159 Verdachtsfälle als Maueropfer ausgeschlossen werden konnten. 16 Fälle werden derzeit noch geprüft, das Forschungsprojekt wird voraussichtlich im Frühjahr 2009 abgeschlossen. 15 Fälle lassen sich bislang nicht aufklären. Darüber hinaus hatten 19 Personen, die bislang als Mauertote galten, ihre Schusswunden oder die Festnahmen zum Teil schwer verletzt überlebt.
Nach den Erkenntnissen der Potsdamer Historiker waren die meisten Todesopfer, nämlich 98, DDR-Flüchtlinge. Zumeist waren es junge Männer zwischen 16 und 30 Jahren, acht der Mauertoten waren Frauen. Ebenfalls acht der Opfer waren im Dienst getötete DDR-Grenzsoldaten, 30 Menschen aus Ost und West wurden ohne Fluchtabsicht erschossen oder verunglückten. Unter den Opfern waren auch acht Kinder unter 16 Jahren, darunter fünf Jungen im Vor- und Grundschulalter, die in den Grenzgewässern ertranken. Ein Säugling ist bei der erfolgreichen Flucht der Eltern erstickt. Neben den 136 ermittelten Todesopfern konnten die Forscher mindestens 48 Fälle feststellen, bei denen meist ältere Menschen aus Ost und West während oder nach Kontrollen an den Berliner Grenzübergängen vor allem durch Herzinfarkte gestorben sind.
Mehr als die Hälfte der 136 Todesopfer kamen in den ersten fünf Jahren nach dem Mauerbau ums Leben. Doch auch noch im Jahr des Mauerfalls 1989 wurden drei Menschen an der Berliner Mauer getötet. Der letzte von ihnen, Winfried Freudenberg, verunglückte beim Fluchtversuch mit einem Heißluftballon am 8. März 1989. Erstes Maueropfer war Ida Siekmann, die der Studie zufolge am 22. August 1961 am Tag vor ihrem 59. Geburtstag aus der dritten Etage ihres Wohnhauses an der Bernauer Straße in Berlin gesprungen ist. Durch den Sprung wollte sie sich auf den West-Berliner Bürgersteig retten. Doch die wenigen Federbetten, die sie auf den Gehweg geworfen hatte, konnten sie nicht schützen. Sie sprang in den Tod.
Was den Zeithistorikern bei der ausführlichen Betrachtung der Schicksale der Berliner Maueropfer besonders auffiel, ist die Verschleierungspolitik der DDR-Behörden. Viele Todesfälle sollten vertuscht werden, den Angehörigen wurden oft falsche Angaben zu den Todesumständen der Opfer gemacht. Aus den Todesschüssen wurden Unglücks- oder Verkehrsunfälle. Erstaunlich für den Historiker Hertle auch, wie weit der Arm der Stasi reichte: Krankenhäuser, Gerichtsmediziner, Krematorien, Ämter und Behörden beteiligten sich an der vorsätzlichen Legendenbildung im Falle der Mauertoten. Der Eingriff der Staatsmacht reichte sogar so weit, dass den Hinterbliebenen vorgeschrieben wurde, wie sie zu trauern hätten. „So sollte nach der Tötung der Menschen auch noch die Erinnerung an sie getilgt werden“, sagt Hertle.
In drei Fällen ist bis heute nicht zu klären, was mit der Asche der Verstorbenen geschehen ist. „Die Stasi hat die Toten abgeholt, danach verliert sich ihre Spur“, berichtet Hertle. Niemand weiß, wo und ob die Toten überhaupt beerdigt wurden. Johannes Muschol, Silvio Proksch und Michael Bittner waren in den 80er Jahren an der Mauer erschossen worden. Im Falle von Michael Bittner verschwand nicht nur der Leichnam. Seiner ahnungslosen Mutter wurde vorgegaukelt, dass ihr Sohn von Fluchthelfern in den Westen geschleust worden sei. Hintergrund der Geheimhaltung war, dass sich in den 80er Jahren das politische Klima für die DDR verschlechtert hatte: „Jeder Todesfall an der Mauer wirkte sich negativ auf die Reputation der SED-Führung aus“, so Hertle.
Zum Teil war die Identität der Maueropfer von den DDR-Behörden jahrzehntelang selbst gegenüber den Hinterbliebenen nicht Preis gegeben worden. So stellte sich beispielsweise erst nach der Öffnung der DDR-Archive heraus, dass der 27 Jahre alte Roland Hoff am 29. August 1961 beim Fluchtversuch durch den Teltowkanal am Außenring zwischen Teltow (Kreis Potsdam-Land) und Berlin-Steglitz erschossen wurde. „Nicht schießen! Bitte nicht schießen!“, hatte der junge Mann noch gerufen, als die ersten Schüsse fielen. Doch insgesamt vier Grenzpolizisten nahmen ihn weiter unter Beschuss, bis er tödlich am Kopf getroffen im Wasser versank. Arbeiter, die am Teltower Ufer Zeugen des Gewaltaktes wurden, legten spontan die Arbeit nieder. Einer von ihnen, der die Grenzposten als „KZ-Wächter“ und „Mörder“ beschimpfte, wurde vorübergehend festgenommen und verhört.
Auch gegen andere Zeugen, die ihre Anteilnahme für das Opfer zum Ausdruck brachten, ging die Obrigkeit offensiv vor. So bezeichnete das „Neue Deutschland“ Roland Hoff und den wenige Tage zuvor erschossenen Jürgen Litfin als „finstere Elemente“, „kriminelle Gestalten“ und „Gesindel“ und die „Märkische Volksstimme“ entgegnete Protesten des West-Berliner Senats: „Sie reden von Freiheit und jammern über den von den Grenzkontrollorganen der DDR im Teltow-Kanal erschossenen Verbrecher, der ungeachtet aller Warnrufe und -schüsse unsere Grenze verletzte und sich der verdienten Strafe entziehen wollte.“
Überrascht hat Hertle schließlich, dass auf Menschen an der Mauer sogar dann geschossen wurde, wenn sie für jedermann erkennbar betrunken oder verwirrt waren; nicht wenige Fluchtwillige wurden zu einem Zeitpunkt beschossen und getötet, zu dem sie ihre Fluchtabsicht offensichtlich aufgeben und den Rückzug ins DDR-Gebiet angetreten hatten. Auch ist die Zahl der Opfer, die ohne Fluchtabsichten direkt durch das Grenzregime zu Tode kamen, höher als die Historiker erwartet hatten. Nicht wenige von ihnen stammten aus dem Westen. Schließlich ist die Dunkelziffer derjenigen, die im weitesten Sinne durch das Grenzregime zu Tode kamen, wohl wesentlich höher als bislang angenommen. Hertle hat hierfür eine frappierende Zahl: Allein im Jahr1986 kamen am S-Bahnhof Friedrichstraße mehr als 22 Menschen bei der Grenzpassage ums Leben.
Projekt und Biographien:
www.chronik-der-mauer.de
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: