Von Kay Grimmer: Wahl mit wenig Wählern
Das Interesse an der OB-Wahl scheint erschreckend gering. Leere Urnen, gelangweilte Wahlvorstände – wenigstens die Kandidaten geben ihre Stimme ab
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Markus Wilhelmy blickt auf die graue Urne im Wahllokal in der Innenstadt: „Der langweiligste Tag eines Menschen ist ein Tag im Wahllokal“, sagt der Wahlvorstand. Zumindest, wenn es sich um die Oberbürgermeisterwahl in Potsdam handelt. 127 581 Wahlberechtigte waren aufgerufen, ihr Stadtoberhaupt für die nächsten acht Jahre zu bestimmen. Mit 29,3 Prozent hat bis 16 Uhr nicht einmal jeder dritte Potsdamer gewählt. Ein neuer Negativ-Rekord, selbst bei der schlecht besuchten Kommunalwahl 2008 waren es zu diesem Zeitpunkt wenigstens 35,4 Prozent. Immerhin, die Zahl der Briefwähler in der gesamten Stadt ist mit gut zehn Prozent relativ hoch. Auch FDP-Kandidat Marcel Yon gehört zu den „Vorwählern“. Anders als Barbara Richstein, die CDU- Kandidatin. Die würde zwar ihre Stimme abgeben, wie sie im Wahlkampf bekannte, darf es aber gar nicht. Der Christdemokratin fehlt der erste Wohnsitz in der Stadt, ihr Ein-Zimmer-Apartment im Zentrum-Ost ist lediglich Zweitwohnung für die in Falkensee Gemeldete.
Die wenigen Potsdamer, die bis zum Nachmittag den Gang zur Wahlurne angetreten haben, wollen meist ihrem Ärger Luft machen, hoffen auf Veränderungen oder wollen verhindern. Eine Familie mit Baby am Schlaatz will die Bildungsmöglichkeiten verbessert, die Zahl der Kitaplätze vergrößert sehen. Ein Mittzwanziger in der Innenstadt hofft, „dass Potsdam nicht weiter Touristenstadt wird, sondern dass klar wird, dass hier noch Menschen wohnen“. In Babelsberg wird mit der Stimmabgabe für das Oberbürgermeisteramt auch für oder gegen freie Uferwege votiert. Vor dem Wahllokal in der Goethe-Schule treffen Enteignungs-Befürworter auf Gegner eines solchen Procedere – heiße Diskussionen entspinnen sich. In der Nauener Vorstadt greift ein Mann seinen Wahlzettel mit den Worten: „Ich will kein Stasi-Potsdam.“
Größter Herausforderer des sozialdemokratischen Amtsinhabers Jann Jakobs ist der Linke-Kandidat Hans-Jürgen Scharfenberg, Innenpolitiker im Landtag, Fraktionschef im Stadtparlament und ehemaliger Informeller Mitarbeiter der DDR- Staatssicherheit. 123 Stimmen trennten Scharfenberg 2002 vom Oberbürgermeisteramt. Er will es wieder wissen.
Die Sonne kratzt noch am morgendlichen Horizont, als Hans-Jürgen Scharfenberg in schwarzer Jeans und grauem Sakko sein Wahllokal im Kindertreff am Stern betritt. Mit Ehefrau Ursula und Sohn Jens geht Scharfenberg Punkt neun Uhr wählen – wie immer. Der Herausforderer zeigt sich betont locker. Kein Wunder, sein Wahlkreis ist ein Heimspiel: fast ausnahmslos Platte, viele Rentner. Man kennt sich, eine ältere Frau ruft dem Politiker zu: „Viel Glück, Herr Scharfenberg.“ Der Mund unter dem grauen Schnauzbart verzieht sich zu einem Lachen. Er habe „gut geschlafen“, sagt Scharfenberg. Von Aufregung keine Spur. Allerdings kennt der Berufspolitiker das Wahl-Procedere zur Genüge. Deshalb ist auch dieser Sonntag ein normaler. „Ich habe eine Menge zu tun. Alles, was in den letzten Wochen liegengeblieben ist.“ Die Dachrinne soll gesäubert werden, der Rasen gemäht, zählt er auf. Rasenmähen am Sonntag? „Sie können mich ja anzählen“, grinst er zurück.
In Scharfenbergs Wahllokal hat der Potsdamer Fanfarenzug das Sagen. Schon traditionell unterstützen Mitglieder der Vorzeige-Musikformation die Wahlen. Denn trotz Verpflegungsgelds von 20 Euro wird es immer schwieriger, die 114 Wahllokale mit Vorständen zu besetzen. Das bedeutet für die Stadtverwaltungsmitarbeiter Sonderschicht am Wahlsonntag. Ursula Löbel, die während der Woche Koordinatorin für die Lokale Agenda im Rathaus ist, sitzt seit Jahren in Wahlvorständen. Ihr Team in der Nauener Vorstadt ist ein eingespieltes. Nicht einmal die Selbstverpflegung muss noch abgesprochen werden, jeder weiß, was er mitzubringen hat: Schmalz, Brot, Obst, Kuchen. Löbel sagt: „Wir kennen uns von vielen Stimmabgaben, es ist wie ein Klassentreffen.“
Polizei und Ordnungsamt begleiten Grünen-Kandidatin Marie Luise von Halem bei ihrem Urnengang. In der Brandenburger Vorstadt, seit jeher eine Hochburg der Bündnisgrünen, herrscht Verkehrschaos. Ein Reisebus mit Touristen hat sich zwischen den parkenden Autos hoffnungslos festgefahren und versperrt die Straße. Für von Halem, passionierte Radlerin, kein Problem: Pedaltretend rauscht sie auf dem Fußweg am eingekeilten Reisebus vorbei. Vor der Tür der Gerhart-Hauptmann-Grundschule, in der von Halem ihre Stimmabgabe vollzieht, stehen die für den kinderreichen Stadtteil nahezu obligatorischen Kinderwagen. Während die Bündnisgrüne ihr Kreuzchen macht, sind die Ordnungsamtsmitarbeiter auch am Wahlsonntag ausgesprochen fleißig und verteilen Knöllchen an Autos, die die Kreuzungen in der Brandenburger Vorstadt zuparken.
Einen Blumenstrauß, auf Papier gemalt, hat der Wahlvorstand in der Großen Stadtschule in der Innenstadt bereits überreicht. An den 100. Wähler. Ein weiterer gemalter Blumendank wartet auf seinen Empfänger – er ist für Nummer 200. Kurz nach dem Mittag liegt die Beteiligung an der OB-Wahl bei 17 Prozent – erschreckend wenig. Nur 168 Stimmzettel befinden sich in der Urne. Wahl-„Totentanz“ seit der Öffnung um 8 Uhr auch in der Nauener Vorstadt, einer jener Stadtteile, die prosperieren. Über 1500 Wähler könnten im größten Wahlbezirk abstimmen. In den ersten zwei Stunden haben lediglich 70 von ihrem Wahlrecht Gebrauch gemacht. Ein Ehepaar kurvt auf seinen Rädern zur Stimmabgabe. Nach dem Urnengang geht es per Pedales weiter zum Schwielowsee. „Wir sind sehr sauer“, sagt die Radlerin. „Chaos“ herrsche in der Stadt. Neben der Verkehrssituation ist der gesperrte Uferweg am Griebnitzsee das größte Ärgernis für sie. „Das hat Jakobs verschlafen.“ Ihr Mann ergänzt: „Erstaunlich, dass ausgerechnet immer Nicht-Potsdamer wissen wollen, wie es besser geht.“ Ob er den gebürtigen Ostfriesen Jakobs meint, lässt er offen.
Der steigt kurz vor dem Mittag die Stufen hinab in den Keller der Kita „Vielfalt“ in der Puschkinallee. „Wählen hinter Gittern“ heißt es für Jakobs, die Souterrain- Fenster sind mit schmiedeeisernen Stäben gesichert. Gemeinsam mit Ehefrau Christine Albrecht-Jakobs und Tochter Karen geht es zur Stimmabgabe. „Karen ist Erstwählerin“, sagt Jakobs stolz. Wo sie ihr Kreuz setzt, bleibt ihr Geheimnis.
Immerhin gehört Familie Jakobs zu den 150 Wählern, die in diesem Wahllokal bis zum Mittag die Stimme abgegeben haben. Das Trio schlendert durch die Kolonie Alexandrowka mit den historischen Holzhäusern, von denen die Familie eines bewohnt. Das dort stattfindende Apfelfest zieht mehr Interessenten an als die Wahl. Vielleicht liegt es am „Bärenfang“, einem Honigschnaps mit 40 Prozent. Eine Flasche davon kauft sich Jakobs. Schon um 19.40 Uhr am Abend ist klar: Der Amtsinhaber kann sich nach der ersten Runde einen Siegestrunk genehmigen.
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