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Wo bitte gibt es hier Geschichte? Babelsberger Schüler unterwegs in Klein Glienicke. Der Ort war nach dem Mauerbau 1961 über Nacht von Wannsee abgeschnitten und nur noch über eine kleine Brücke von Babelsberg aus erreichbar.

© Andreas Klaer

Landeshauptstadt: Was ist ein Konsum?

Feldforschung: Schüler sollen Historie selbst entdecken und nicht fertig vorgesetzt bekommen

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Die Schüler stehen hinter dem Rednerpult, aufgeregt, manche ein bisschen verunsichert. Der Blick aus dem Fenster gibt die Sicht frei auf den ehemaligen Grenzstreifen, der jetzt ein Park ist. Hier in der Gedenkstätte Berliner Mauer in der Bernauer Straße präsentieren sie die Ergebnisse ihres Workshops „Die Grenzreporter – Geschichte selbst gemacht“.

Etwa 100 Brandenburger Schüler, darunter auch eine Gruppe aus Potsdam, beschäftigten sich im Mai mit deutsch-deutscher Geschichte und untersuchten, wie der Grenzverlauf die Entwicklung von sechs Gemeinden, die durch die Mauer brutal geteilt wurden, beeinflusste. Was 1961 und in den 28 Jahren nach dem Mauerbau in Klein Glienicke passierte, erforschten 16 Neuntklässler der Babelsberger Goethe-Gesamtschule.

Im Lehrplan tauche das Thema etwa in der neunten Klasse auf, sagen die beiden Geschichtslehrerinnen Raika Seipold und Sabine Abraham. Aber natürlich zeigten die Kinder schon früher Interesse. Zusätzlich lässt sich die deutsche Geschichte in den Literaturunterricht einbauen. Zum Beispiel würde Grit Poppes Roman „Weggesperrt“ gelesen. In Potsdam bietet die Gedenkstätte in der Lindenstraße die Lesung kombiniert mit einer Führung an – „solche Angebote muss man nutzen“, sagt Seipold. Auch Fahrten nach Berlin bieten sich beim Thema Ost-West-Geschichte an.

Stefan Felsberg vom Institut für angewandte Geschichte, der das Projekt organisiert, hält es für wichtig, dass auch die Heimat erkundet wird, dort, wo die Geschichte weniger offensichtlich zu Tage tritt: „Es sollte eine echte Spurensuche werden. Geschichte ist eben keine fertige Faktensammlung, es gibt keine historische Wahrheit. Wir wollen, dass die Schüler die Kompetenz entwickeln, selbst die Geschichten zu finden, zu interpretieren und den Umgang mit Quellen lernen.“

Genau das passierte in den sechs Grenzorten, darunter Falkensee, Groß Glienicke und Klein Glienicke. Ziel war es, eine interaktive Karte mit dem alten Grenzverlauf anzufertigen, alte und neue Gebäude mit ihren Funktionen einzutragen, Besonderheiten des Dorflebens herauszufinden. Mancherorts erwies sich die Suche nach auskunftsfreudigen, alteingesessenen Einwohnern als schwierig. Doch die Schüler blieben hartnäckig, kontaktierten Heimatvereine, Dorfchronisten und Kirchgemeinden. Sie fotografierten und kartografierten, machten Interviews. So wurde aus dem Geschichtsprojekt zusätzlich ein Methodentraining. Auch die Lehrer profitierten von dem Projekt, erlebten ihre Schüler einmal ganz anders: „Wir waren erstaunt, wie motiviert sie sich da rein gestürzt haben“, sagt Raika Seipold.

Das Interesse für die deutsch-deutsche Geschichte war also da – oder wurde geweckt. „Die Mauer hat kaum noch Einfluss auf unser Leben“, konstatiert zwar ein Schüler zu Beginn seiner Präsentation. Doch die Menschen, deren Fenster nach Westen 1961 plötzlich zugemauert wurden oder deren Kinder über Nacht im Westen blieben, leben noch, die Gespräche mit ihnen beeindruckten die Nachwendegeborenen. „Da waren tolle Geschichten dabei“, sagt einer. Sie wissen jetzt, was ein Konsum ist, ein Passierschein, und dass sogar Krankenwagen mit Blaulicht akribisch an der Grenze kontrolliert wurden – mit dem Risiko, dass es Menschenleben kosten könnte.

Im anschließenden Podiumsgespräch von Schülern, Lehrern und zwei Zeitzeugen bitten diese darum, die ernsthafteren Aspekte dieser Geschichtsepoche nicht zu vergessen. „Hier war bisher noch nicht ein Mal von den Mauertoten die Rede“, mahnt ein Gast und warnt vor Verharmlosung. Er höre des öfteren, wie Jugendliche diese Zeit als „cool“ und „krass“ beschreiben. „Das“, sagt er, „war sie nicht“.

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