zum Hauptinhalt

Landeshauptstadt: Weinkrämpfe und Fassungslosigkeit

Beobachtungen in der Nacht danach – der Tatort zwischen Trauer und der Frage nach dem „Warum?“

Stand:

Innenstadt – Stille Weinkrämpfe, fassungsloses Schweigen, lange Umarmungen, um Trost zu spenden – schon am frühen Samstagabend haben sich am Tatort rund 15 Jugendliche versammelt, die dem in der Nacht zuvor getöteten David F. gedenken. An der Hauswand der Charlottenstraße 29 ist eine Andachtsstätte mit Kerzen und Blumen entstanden. „Du wirst immer in unserem Herzen bleiben! Wir haben dich lieb“, steht auf einem mit gelbem Klebeband an die Mauer gehangenen A4-Blatt, dass von Angehörigen und Freunden unterschrieben worden ist. Doch wer der 20-Jährige Potsdamer war, der dort starb, möchte in diesem Augenblick und auch tags darauf keiner sagen.

Betroffenheit auch bei Passanten, die noch nichts von der Messerstecherei in der Nacht zuvor gehört haben. „Ich habe nichts mitbekommen, dabei wohne ich nur ein paar Häuser weiter“, sagt ein junger Mann, der mit seiner Freundin kurz stehen geblieben ist. „Das so etwas schon wieder in Potsdam passiert“, schüttelt eine ältere Dame ihren Kopf. Polizisten in Zivil stehen in der Nähe, warten.

Auch im Lokal „Quartier“, dem Ausgangspunkt der tödlichen Auseinandersetzung zwischen zwei Jugendgruppen, ist nichts wie sonst. Die zweigeschossige Multikulti-Kneipe hat aber geöffnet. „Heute wird nur ruhige Chill-Out-Musik gespielt“, sagt einer vom Personal. Auf einer Leinwand läuft das Fußballspiel Italien gegen die USA. Doch auf die WM achtet an diesem Abend niemand.

Stattdessen Rätselraten, was überhaupt passiert ist. „Die wollten anscheinend alle Ärger und haben sich zufällig dann hier getroffen“, sagt die Barfrau. An ihrem Tresen im Untergeschoss vom „Quartier“ finden sich im Laufe dieses traurigen Abends auch Leute ein, die bei der Messerstecherei in der Nacht zuvor beteiligt waren – etwa ein Jugendlicher mit türkischem Akzent, der auch den mutmaßlichen Täter aus Afghanistan kennt. „Ich will eigentlich nicht zur Polizei, habe schon genug Ärger mit denen“, sagt er. Über den Grund für die Schlägerei will er nicht groß reden. Nur soviel: „Die waren aggressiv drauf, voll aggro – aber hier macht man keinen Stress.“ Die Barfrau redet auf ihn ein, sich für die Polizeiaussage zu entscheiden. Er bestellt die nächste Cola mit Schnaps – ob er aussagen wird, lässt er offen.

Die Barfrau macht sich inzwischen Gedanken über die Tat. „Es ist so doof, wenn Ausländer auch noch alle Klischees erfüllen“, sagt die Barfrau. Sie habe Angst, dass nun Ausländer wieder stigmatisiert würden. „Mir will nicht in den Kopf, warum die bei solchen Schlägereien noch ein Messer ziehen müssen.“

So geht es auch einer anderen Frau, die ab etwa 23 Uhr an der Bar sitzt: „Potsdam wird langsam wie Berlin, dauernd passiert so etwas.“ Die blonde Frau hält sich dabei an einem Glas mit Alkohol fest – und erzählt kurz, dass sie mit dem Opfer gut befreundet war. Mehr möchte sie nicht sagen. „Ich habe heute schon genug geweint.“ Draußen haben inzwischen Jugendliche auf eine Tafel am „Quartier“ anklagende Sätze geschrieben: „Hier ist am 17.6. um 3 Uhr David sinnlos gestorben. Warum? Wofür? Wem geht es denn jetzt besser?“ Henri Kramer

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })