Landeshauptstadt: Weiße Fahnen in Babelsberg „Als fester Platz zu halten“
Die Legende von der kampflosen Übergabe durch eine kommunistische Widerstandsgruppe Sinnloser militärischer Widerstand / Am 30. April war für Potsdam der Zweite Weltkrieg zu Ende
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Die Legende von der kampflosen Übergabe durch eine kommunistische Widerstandsgruppe Sinnloser militärischer Widerstand / Am 30. April war für Potsdam der Zweite Weltkrieg zu Ende Von Erhart Hohenstein Babelsberg - Als am 24. April 1945 Panzer der 1. Ukrainischen Front aus Richtung Güterfelde Babelsberg erreichten, stießen sie nur auf geringen Widerstand. Einer ihrer T 34 wurde getroffen, wobei drei Soldaten ums Leben kamen. Aus zahlreichen Fenstern hingen weiße Fahnen. So wurde ein beträchtlicher Teil Babelsbergs ohne weiteres Blutvergießen und ohne Zerstörungen von der Roten Armee besetzt. Die offizielle lokale Geschichtsschreibung der DDR-Zeit hat daraus eine „kampflose Übergabe“ an die „Befreier“ abgeleitet, wie sie anderenorts – beispielsweise in Greifswald durch den Stadtkommandanten Oberst Rudolf Petershagen – tatsächlich vollzogen wurde. Für Babelsberg wurde sie zudem einer illegalen Widerstandsgruppe aus Kommunisten und sowjetischen Zwangsarbeitern zugeschrieben. Als ihr Kopf galt Alfred Lehnert, der bis 1941 als „Moorsoldat“ im KZ-Lager Börgermoor im Emsland interniert war und dann nach Babelsberg zurückkehrte. Er knüpfte 1943 Kontakte zu sowjetischen Kriegsgefangenen im Zwangsarbeitslager des Lokomotivbaubetriebs Orenstein & Koppel. Acht von ihnen, die während des Bombenangriffs vom 14. April 1945 geflohen waren, versteckte er in seiner Wohnlaube. Wenn Anfänge und Stärke der Widerstandsgruppe auch unbekannt sind, so kann doch als gesichert gelten, dass sie in der Nacht vom 23. zum 24. April an der Autobahnauffahrt Drewitz eine Panzersperre beseitigte, die zwei Tage zuvor aus Baumstämmen und großen Steinen aufgetürmt worden war. Der Potsdamer Militärhistoriker Kurt Arlt schreibt dazu, dass die sieben zur Bewachung eingesetzten Volkssturmmänner schon nach Hause gegangen waren. Weitaus dramatischer schilderte den Brandenburgischen Neuesten Nachrichten vor 30 Jahren einer der Beteiligten, Charlie Vogel, das Geschehen. Danach hatten die Zwangsarbeiter die Wache auf Russisch angerufen, die daraufhin erschreckt die Waffen fallen ließ. Vielleicht liegt hier eine Verwechslung mit der Panzersperre am Bahnhof Drewitz vor, wo laut Arlt am Morgen des 24. April tatsächlich der Volkssturm gewaltsam durch russische Kriegsgefangene entwaffnet wurde. Wie Vogel weiter berichtete, hätten sich der Babelsberger Kommunist Heinrich Eichler und der Kriegsgefangene Leutnant Sergej Wolkow auf Schleichwegen nach Güterfelde zu der sowjetischen Panzereinheit durchgeschlagen und sie nach Babelsberg geführt. „Schließlich hörte ich Schritte. Heinrich Eichler kam zurück, 100 Meter hinter ihm rollten die ersten sowjetischen Panzer“, gab der 1945 erst 16-jährige Stiefsohn von Alfred Lehnert seine Erlebnisse als Horchposten an der Autobahnbrücke wieder. Etwas anders wird der Ablauf von Gerda Ziebell dargestellt, die nach Kriegsende für ein Jahr Hausangestellte bei dem zum Babelsberger KPD-Sekretär aufgestiegenen Lehnert war. Er habe ihr erzählt, er selbst sei mit Eichler und dem russisch sprechenden Wolfgang Schumann den sowjetischen Truppen entgegen gegangen. Dort wurden sie von einem Offizier mit den Worten „Warten - wenn alles stimmt, gut. Wenn nicht, alle erschossen“ empfangen. Einig sind sich Historiker und Zeitzeugen, dass die Gruppe am 23. April in Babelsberg ein Flugblatt verteilte, auf dem es hieß: „Volkssturmleute! Wir fordern Euch auf, jeden Widerstand sofort einzustellen. Rettet das Leben Eurer Frauen und Kinder. Haltet weiße Fahnen bereit!“ Kurt Arlt schätzt ein, dass die Flugblätter nicht ohne Wirkung blieben. Wichtiger dürfte aber die Sehnsucht der Bevölkerung nach dem Kriegsende gewesen sein, das sie körperlich unbeschadet erleben wollte. Entscheidend war die Tatsache, dass den vorrückenden Panzern in diesem Teil Babelsbergs kein militärischer Widerstand entgegen gesetzt wurde. Das war nicht überall so. Im Bereich des Schlosses Babelsberg kam es noch am 27. April zu heftigen Kämpfen, wobei etwa 250 deutsche Soldaten fielen. Die russischen Verluste werden mit acht Toten und 16 Verwundeten angegeben. Ohne ihr mutiges Handeln zu relativieren, kann also nicht von einer „kampflosen Übergabe“ Babelsbergs durch die Widerstandsgruppe um Alfred Lehnert gesprochen werden. Es war eher eine Preisgabe durch die deutschen Truppen, um die Kampfeinheiten an als wichtiger erachteten Punkten in Potsdam konzentrieren zu können. Vor 60 Jahren begann am 24. April 1945 mit der kampflosen Einnahme großer Teile Babelsbergs die Eroberung Potsdams durch die Rote Armee. An den folgenden Tagen stieß sie aber auf hartnäckigen Widerstand der deutschen Truppen. Die durch hohe Verluste geschwächte, von Rehbrücke aus angreifende 61. Gardepanzerbrigade konnte wegen des starken gegnerischen Feuers und der Sprengung der Langen Brücke die Innenstadt nicht erreichen. Erfolgreicher waren dagegen die von Norden vorstoßenden Truppen. Nach Darstellung der Potsdamer Militärhistoriker Werner Stang und Kurt Arlt überwand ein Bataillon bereits am 25. April den Sacrow-Paretzer Kanal und erreichte damit Potsdamer Territorium. Die Truppen mussten sich gegen erbitterten Widerstand über die Linie Eiche Bornstedt - Nedlitz in die Stadt vorkämpfen. In Eiche erlitten sie bei deutschen Gegenangriffen erhebliche Verluste. Laut dem Bericht des sowjetischen Kriegsberichterstatters Michail Oseraner setzte ein Schützenregiment, das zur 47. Armee der 1. Belorussischen Front gehörte. nach einem Ablenkungsmanöver in der Nacht vom 26. zum 27. April „auf Kähnen, Flößen und Amphibienfahrzeugen“ über den Jungfernsee. Es erreichte nach dem Bericht bereits um 13 Uhr das Stadtschloss und hisste dort die Rote Fahne. Unmittelbar darauf übergab ein Beauftragter des geflohenen Oberbürgermeisters Hans Friedrichs dem Befehlshaber Generalmajor S. P. Widrygan die Stadtschlüssel, die sich heute im Museum von Cherson (Ukraine) befinden sollen. Den letzten Akt der Kampfhandlungen bedeutete dies jedoch nicht. Auf der Verteidigungslinie Bahnhof Wildpark - Neues Palais - Straße nach Eiche, in der Brandenburger Vorstadt und in der Berliner Vorstadt gingen sie noch tagelang weiter. Erst am 30. April war für Potsdam der Krieg zu Ende. Der hier verkürzt dargestellte Ablauf der Kämpfe ist solide erforscht und unter anderem durch Stang/Arlt, „Brandenburg im Jahr 1945“, sowie in Veröffentlichungen des Potsdam-Museums dargestellt worden. Vor allem für die jüngeren Generationen unbeantwortet bleibt jedoch die Frage, warum die nur knapp 10 000 Mann starken deutschen Truppen, darunter viele Volkssturmmänner und Hitlerjungen, in militärisch aussichtsloser Lage solch erbitterten Widerstand leisteten. Die angreifende Rote Armee antwortete darauf mit Artilleriebeschuss und Tieffliegerangriffen, die nach dem verheerenden englischen Luftangriff vom 14. April 1945 erneut mindestens 308 (wahrscheinlich aber fast das Dreifache) an Todesopfern unter der Zivilbevölkerung forderten. Die Zahl der bei den Kämpfen getöteten sowjetischen Soldaten wird auf mehr als 400, die der deutschen auf etwa 900 geschätzt. Baudenkmale, die den Luftangriff überstanden hatten, wurden durch den Beschuss zerstört, darunter die Heiligengeistkirche, das Schauspielhaus, die Kuppel des Militärwaisenhauses und die Gontardbauten an der Nordseite des Platzes der Einheit. Der Grund für den militärisch sinnlosen Widerstand kann zunächst in dem Befehl vom 9. März 1945 gesucht werden, „Die Insel Potsdam ist als Fester Platz zu halten“ und „bis zum letzten Mann und bis zur letzten Patrone“ zu verteidigen. Verantwortlich dafür war Generalleutnant Hellmuth Reymann. Aus der Sicht des Potsdamer Stadthistorikers Hartmut Knitter trug aber auch das barbarische Vorgehen der Sowjetarmee gegen die Zivilbevölkerung, mit der sie deutsche Kriegsgräuel in ihrer Heimat beantwortete, zu der erbitterten Gegenwehr bei. Nachdem bei der zeitweiligen Rückeroberung ostpreußischer Gebiete durch die Deutschen unvorstellbare Grausamkeiten aufgedeckt worden waren, habe es die Goebbels-Propaganda leicht gehabt, eine Kriegsniederlage mit dem Untergang des deutschen Volkes gleichzusetzen. Erhart Hohenstein
Erhart Hohenstein
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