Homepage: „Wenn Gewalt zum Erfolgsrezept wird“
Der Potsdamer Sozialforscher Dietmar Sturzbecher erklärt, warum der Kampf gegen Rechts bereits im Kindergarten beginnen sollte
Stand:
Herr Sturzbecher, Präventionsprogramme zum Rechtsextremismus setzen meist im Jugendalter an. Viel zu spät, sagen Sie.
Es gibt zwei übergreifende Ursachen für Extremismus, insbesondere Rechtsextremismus: Gewaltbereitschaft und Vorurteile. Wenn diese Dinge zusammenkommen, leisten sie Extremismus Vorschub. Die Anfälligkeit für Vorurteile wie auch für die gewaltsame Durchsetzung von Zielen kommt entwicklungspsychologisch gesehen bereits sehr früh ins Spiel.
In welchem Alter?
Das beginnt bereits im Alter von rund vier Jahren. Kinder in diesem Alter versuchen, kooperativ zu spielen. Dazu müssen sie ihre Ziele und Wünsche abstimmen, Spielmaterialien aushandeln und auftretende Konflikte konstruktiv bewältigen. Das kann man gut bei Rollenspielen beobachten, die in dieser Phase beginnen. Für solche „arbeitsteiligen“ Spiele fehlen jüngeren Kindern noch kommunikative und kognitive Fähigkeiten, die sie aber schnell erlernen. Weil die Kinder das anfangs noch nicht können, kommt es in Gruppen relativ oft zu kurzen körperlichen Auseinandersetzungen: Schubsen, Beißen und Treten ist nicht selten. Das sind aber keine Bösartigkeiten, sondern ist auf das Fehlen von Aushandlungsfähigkeiten und sozialen Hierarchien zurückzuführen. Ein Problem entsteht erst, wenn man aggressive Durchsetzungsstrategien pädagogisch ignoriert: Dann wird Gewalt zum Erfolgsrezept.
Wie sollte darauf reagiert werden?
In diesem Alter muss man Kooperationskompetenz fördern, also dafür sorgen, dass niemand ausgegrenzt wird und Konflikte gewaltfrei ausgehandelt werden. Das zweite Problem ist, dass genau in dieser Altersgruppe die Sensibilität für die Übernahme von Vorurteilen entsteht. Kinder ab vier Jahren können sicher zwischen Mitgliedern verschiedener – auch ethnischer – Gruppen unterscheiden und favorisieren die eigene Gruppe. Irgendjemand bleibt immer übrig – das sind dann die anderen. Mitglieder der anderen Gruppen werden abgewertet.
Was sollten Pädagogen tun?
Zum einen eine soziale Erziehung, die auf Kooperation und Mitmachen abzielt, zum anderen eine vorurteilssensible Frühpädagogik. Das hat noch nichts mit politischem Extremismus zu tun. Vielmehr soll vermieden werden, dass andere Gruppen abgewertet werden, weil man sich damit selbst aufwerten will. Man darf nicht abwarten, bis die Zielgruppen gefährlich sind, sondern man muss vorbeugend etwas tun. Eine Erziehung gegen Gewalt und Vorurteile ist wichtig und die beste Vorbeugung gegen Extremismus. Wenn man im Vorschulalter Gewalt durchgehen lässt, verfestigen sich aggressive Verhaltensmuster über das Schulalter hinweg und kehren als Jugendkriminalität wieder. Das betrifft vor allem die Jungen, weil sie körperlich stärker sind.
Müssen Erzieher und Pädagogen umdenken?
Sie müssen speziell für diese Punkte sensibilisiert werden. Die psychologischen Erkenntnisse über die Entwicklung von Gewaltbereitschaft und Vorurteilen sind nicht neu. Die Frage ist, ob sie in der Ausbildung wie auch in der berufsbegleitenden Fortbildung ausreichend berücksichtigt werden. So sind beispielsweise die Ausbildungsinhalte und -bedingungen für pädagogische Kita-Fachkräfte in Deutschland sehr unterschiedlich. Eine Hochschulausbildung mit einem substanziellen Anteil an Sozial- und Pädagogischer Psychologie wie in vielen anderen europäischen Ländern ist nicht die Norm. Immerhin sind in den vergangenen Jahren in diesem Bereich viele Fortbildungsangebote geschaffen worden. Diese werden auch in unserem Institut stark nachgefragt. Kurz gesagt: Wissenslücken bei der sozialen Erziehung sind nicht auf die Ignoranz der Erzieherinnen, sondern auf ungenutzte Potenziale im Ausbildungssystem und bei der Verbindung von Ausbildung und Praxis zurückzuführen.
Sollten Erzieher in Konflikte eingreifen?
Konflikte sind das beste Übungsfeld, um Kooperationsfähigkeiten zu erlernen. Eigentlich müssten die Erzieher sich also über die damit verbundenen pädagogischen Möglichkeiten freuen und anhand des Konfliktes zeigen, wie man damit konstruktiv umgeht. Untersuchungen zeigen aber, dass Erzieher häufig den Konflikt recht schnell und einfach mit einem Machtwort beenden, beispielsweise indem sie bei Gruppeneinstiegskonflikten die Einbeziehung abgelehnter Kinder an Spielen verordnen. Damit verlieren sie eine große pädagogische Chance.
Wie lässt sich diese Chance nutzen?
Dafür gibt es spezifische pädagogische Techniken: Zuerst erklärt man den Beteiligten, wie es zu dem Konflikt kam und wie man ihn hätte vermeiden oder aushandeln können. Das übt man dann in Rollenspielen – viele Kinder lieben Rollenspiele. Dazu nimmt man den „Angreifer“ und das „Opfer“ und vertauscht ihre Rollen. Dadurch zeigt man dem aggressiven Kind, wie es einem in der Rolle des Anderen geht und wie man es hätte besser machen können. Zwei gewalttätige 16-Jährige würden über solche Spiele vermutlich lachen. Kinder im Kindergartenalter hingegen sind dafür noch offen und lernen dabei, denn sie wollen sich ja eigentlich gar nicht streiten. Diese sensible Phase muss man nutzen, um die realen Konflikte aufzugreifen und als pädagogische Chance zu begreifen.
Bleibt die Macht der Vorurteile.
Vorurteile sind nicht, wie lange angenommen, nur Dummheit, sondern sie sind nicht zuletzt auch nützliches Denken. Wenn man einer Gruppe von Anderen beziehungsweise Fremden Schlechtes unterstellt und sie in einen Topf steckt, hat das Vorzüge. Beispielsweise muss man nicht mehr über Unterschiede zwischen ihnen nachdenken. Vorurteile ermöglichen es uns also, die Welt in einfachen Mustern zu sehen. Indem wir die Anderen – etwa Juden, Muslime, Ausländer oder wen auch immer – abwerten und ihnen Schuld zuweisen, werten wir uns selbst auf und wälzen die eigene Verantwortung ab. Dies ist bequem und verführt nicht nur Jugendliche, die sich soziale Anerkennung oft noch erkämpfen müssen.
Sollen wir Vorurteile also ächten?
Es funktioniert nicht, sie nur zu ächten und zu verbieten. Wenn man versucht, Vorurteile zu unterdrücken, dann fühlen sich Menschen bevormundet und wehren sich. Es müssen noch andere Dinge hinzukommen. Zum Beispiel baut man Vorurteile durch das genauere Kennenlernen von anderen Menschen ab. Es reicht aber nicht, eine Gruppe von Rechtsextremisten in einen Asia-Imbiss zu setzen, um Vorurteile abzubauen. Dazu müssen gemeinsame Ziele und Vorhaben sowie eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe geschaffen werden, wie es beispielsweise in Programmen für deutsche und polnische Jugendliche der Fall ist. Bereits im Kindergartenalter kann man – wie in jeder Altersstufe – Gruppenschemata durchbrechen, indem man zeigt, dass die anderen sich nur in mancher Hinsicht von einem selbst unterscheiden, dabei untereinander auch unterschiedlich sind und viele gute Eigenschaften aufweisen.
Sie haben eine interessante These zum Thema Selbstvertrauen.
Nach unseren Forschungsergebnissen sind Menschen, die überzeugt sind, alles zu können, aber nichts zu dürfen, sehr anfällig für rechtsextremistische Anschauungen. Bei ihnen paart sich übersteigertes Selbstvertrauen mit externalen Kontrollüberzeugungen, das heißt sie glauben nicht, des eigenen Glückes Schmied zu sein. Das Selbstvertrauen, das viele Rechtsextreme haben, ist häufig unbegründet. So vertrauen sie darauf, bestimmte Lebensziele zu erreichen, obwohl sie wenig leistungsbereit sind. Solchen Menschen muss man überschaubare, ihren Fähigkeiten entsprechende Aufgaben geben, an denen sie wachsen können. Eine weitere Kombination ist gefährlich: strenge gewalttätige Eltern gepaart mit einem engen Familienzusammenhalt. Das klingt nur auf den ersten Blick paradox. Die Eltern sagen, wo es langgeht, und schlagen notfalls auch zu; aber man unterstützt und schätzt sich trotzdem. Wenn man diese Art von Fürsorge im Elternhaus nicht mehr finden kann oder will, sucht man sie in der Kameradschaft.
Auch die Eltern sind also gefragt.
Leider erreicht man die Eltern mit sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen und Empfehlungen zur Vorurteils- und Gewaltprävention noch viel schlechter als die Erzieher und Pädagogen, die ja an Hoch- und Fachschulen ausgebildet werden. Hier sind entsprechende familienpädagogische Angebote der Kindertageseinrichtungen und Schulen nötig, die praxisnah und anschaulich sind. Solche Angebote müssen von den Erziehern und Pädagogen stärker an die Eltern herangetragen werden.
Und die Kommunen?
Die haben eine entscheidende Position. Sie sind einerseits die Basis und der Bezugspunkt, von dem aus etwas unternommen werden kann. Andererseits müssen sie die unterschiedlichen Aktivitäten koordinieren, um ihre Wirksamkeit zu erhöhen. Wir haben es mit einem fortwährenden Problem und einer Daueraufgabe zu tun, denn jede Generation ist aufs Neue anfällig für Extremismus, und Extremismus ist für viele Jugendliche ein Durchgangsstadium. Allerdings sind Radikalisierungspotenziale regional unterschiedlich zu finden und haben in manchen Regionen auch eine Tradition, wie historische Betrachtungen zeigen. Anzeichen dafür lassen sich aber – wenn man nur will – leicht finden. In einem unserer Projekte haben wir verschiedene Möglichkeiten zur Früherkennung von Radikalisierungsprozessen erprobt und miteinander verbunden.
Sie sind für Ihre Empfehlungen jüngst angefeindet worden.
Nachdem ich meine These, dass Extremismusprävention bereits im Vorschulalter beginnen müsse, zusammen mit Kollegen der TU Berlin im Juni auf einer Fachtagung in Potsdam vorgetragen hatte, erhielt ich per Mail eine Fülle von Beschimpfungen. Darin hieß es, dass ich den „gesunden Volksnachwuchs“ verunglimpfen würde, indem ich ihn als gewalttätig und vorurteilsbehaftet darstelle.
Haben sie reagiert?
Nein, vermutlich bringt es nichts, auf Beschimpfungen mit ausgewogenen wissenschaftlichen Argumenten zu reagieren. Mein Team und ich investieren unsere Kräfte lieber in Fortbildungsangebote für Erzieherinnen, weil wir damit unsere Möglichkeiten potenzieren können. Vielleicht sollte man solche Angebote zur Vorurteils- und Gewaltprävention auch an Eltern und Großeltern richten.
Sie betrachten seit langer Zeit rechtsextreme Einstellungen unter Brandenburger Jugendlichen. Welche Tendenz gibt es?
Seit dem Jahr 1991 haben wir alle fünf Jahre Erhebungen unternommen, das letzte Mal im Jahr 2010. Insgesamt gesehen zeigt diese Zeitreihenstudie, dass die Belastung durch Rechtsextremismus unter den Jugendlichen sinkt. Am rechten Rand finden sich aber nach wie vor rund drei bis vier Prozent hoch gewaltbereite Hardliner und zehn bis 15 Prozent Mitläufer. Die Gruppe der gewaltbereiten Rechtsextremisten hat sich größenmäßig seit der Wendezeit kaum verändert, dabei gibt es oft auch einen kriminellen Hintergrund. Hier sind wir bei der Bekämpfung noch nicht sehr erfolgreich.
Sie sind dennoch optimistisch.
Wichtig ist, dass der Anteil der Jugendlichen, die sich gegen Rechtsextremismus aussprechen und auch etwas dagegen tun, seit Anfang der 1990er-Jahre beständig wächst. Zwischen 2005 und 2010 sogar von 52 auf 60 Prozent der Landesjugend. Das zeigt, dass unsere Präventionssysteme gut funktionieren. Extremismus ist ein jugendtypisches Durchgangsphänomen: Die möglichst frühe Prävention bleibt eine Daueraufgabe.
Warum gab es Ende der 1980er Jahre im Osten einen sprunghaften Anstieg des Rechtsextremismus?
Teilweise war das eine Folge der Wendezeit. Die DDR war ein autoritäres System, in dem Ausländerfeindlichkeit und Gewalt – als individuelle Durchsetzungsstrategie – sozial geächtet und verboten waren. Wenn in einem solchen System die staatliche Kontrolle reduziert wird, können antisoziale Erscheinungen wie Fremdenfeindlichkeit eskalieren, weil nicht genügend Menschen gelernt haben, sich dagegen zu engagieren; sie unterschätzen das Phänomen oder vertrauen weiterhin auf den Staat. Darüber hinaus war die Wendezeit für viele Eltern mit großen Herausforderungen verbunden: Sie waren verunsichert und hatten mit sich selbst zu tun. Dies führt - wie die Forschung zeigt – nicht selten zu fehlender Aufmerksamkeit für die Probleme von Kindern im Jugendalter. Selbst wenn die meisten Eltern diese Herausforderungen gemeistert haben, gab es doch auch oft Enttäuschungen, die Vorurteile und die Suche nach Schuldigen und Feindbildern begünstigt haben.
Das Gespräch führte Jan Kixmüller
Dietmar Sturzbecher (59) ist Direktor des Instituts für angewandte Familien-, Kindheits- und Jugendforschung, einem An-Institut der Universität Potsdam im brandenburgischen Vehlefanz und außerplanmäßiger Professor an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Potsdam.
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: