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Gewalt und Organisation im Holocaust: Wenn normale Menschen morden
Der Organisationsforscher Stefan Kühl geht davon aus, dass der Massenmord im Holocaust nur möglich war, weil "normale" Bürger dafür in Gewaltorganisationen wie Armee und Polizei eingebunden waren.
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Potsdam - Angesichts des Grauens des Holocausts ist das Bedürfnis nach einfachen Antworten groß. Etwa, dass die Liquidierungen der Ghettos, die Massenerschießungen und die Vergasungen der Juden in deutschen Vernichtungslagern dadurch zu erklären sind, dass die Täter von Adolf Hitler verführt wurden, dass sie besonders brutale Antisemiten und „willige Vollstrecker“ (Daniel Goldhagen) waren. Doch die Ursachen des Judenmords sind wesentlich vielschichtiger. Hannah Arendts Diktum von der „Banalität des Bösen“ ist heute auch nur noch ein, zumal umstrittener, Aspekt des Massenmords, der das Grauen letztlich nicht allumfassend erklären kann.
Ein neuer Erklärungsansatz
Einem neuen Erklärungsansatz geht der Bielefelder Soziologe Stefan Kühl nach. Im Potsdamer Einstein Forum stellte er nun seine Thesen vor. Kühl fragt, warum in der NS-Zeit so viele „ganz normale“ Deutsche bereit waren, sich an der Ermordung der europäischen Juden aktiv zu beteiligen. Ausgehend von frühen organisationssoziologischen Ansätzen, unter anderem von Niklas Luhmann, entwickelt Kühl die These, dass es ihre Einbindung in Organisationen des NS-Staats gewesen sei, die viele Menschen dazu gebracht habe, sich an Deportationen, Massenerschießungen und Vergasungen zu beteiligen – und zwar unabhängig von den ganz unterschiedlichen Motiven, die sie ursprünglich zum Eintritt in diese Organisationen bewogen hatten.
Kühl geht davon aus, dass über 99 Prozent der Täter Mitglieder staatlicher Gewaltorganisationen, also der Armee, Polizei oder der SS, waren. Überraschend daran sei, dass diese Personen weder vor noch nach der NS-Zeit ein mörderisches Verhalten an den Tag legten. Dies lege die Vermutung nahe, dass es die Mitgliedschaft in der entsprechenden Organisation war, die ein solches Verhalten begünstigte. „Die ,ganz normalen Männer’ und die ,ganz normalen Frauen’ fingen in dem Moment an, sich an Tötungen von Juden zu beteiligen, als sie als Mitglied einer staatlichen Organisation aufgefordert wurden, ihren Beitrag zum Vernichtungsprogramm zu liefern“, erklärt Kühl. Und fast alle von ihnen hätten damit genau in dem Moment wieder aufgehört, als sie diese Tötungsorganisationen verließen.
Der Ansatz hat etwas Beunruhigendes
Der Holocaust lasse sich zwar nicht allein über das Verhalten in Organisationen erklären. „Dazu spielen die rechtlichen, politischen, wissenschaftlichen oder wirtschaftlichen Bedingungen eine zu große Rolle“, schreibt Kühl in einem Abstract. Aber ohne ein grundlegendes Verständnis von Organisationen könne man die Beteiligung der „ganz normalen“ Täter am Holocaust nicht verstehen. „Aus einer soziologischen Perspektive liegt das Beunruhigende am Holocaust darin, dass es bei organisierten Gewaltanwendungen zweitrangig ist, aus welchen Motiven sich Personen an Folterungen, Erschießungen oder Vergasungen beteiligen“, schreibt Kühl.
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